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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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der Anfang vom Ende begonnen. Nur ein paar Monate nach diesen Ereignissen bekam in Dallas die ganze Welt einen Knacks. In jenem November war sie mit ihrem Vater im Auto unterwegs und hatte sorgenvoll beobachtet, wie er die Lautstärke des Radios aufdrehte und ungläubig den Kopf schüttelte. Genau wie die anderen Fahrer blieb er am Straßenrand stehen und vergrub den Kopf in den Armen. Als sie aus dem Fenster schaute, sah sie, dass sich auch in jedem der anderen Autos eine regelrechte Gefühlspantomime abspielte: Tränen, Schock, Angst. Es war das erste Mal, dass sie ihren Vater weinen sah, und auch das erste Mal, dass sie verstand: Auch er würde sie nicht vor allem im Leben beschützen können. Diese Erinnerung war genauso umwälzend wie die an jenen Tag, als Thomas Bayber zum ersten Mal an die Anlegestelle gekommen war. Diese Gewissheit, dass sich die Welt verändert hatte und nichts mehr sein würde wie zuvor.
    Thomas drosselte den Motor, als sie sich dem Ufer näherten, dann stellte er ihn ganz ab und sprang aus dem Boot auf die Anlegestelle. Er sicherte das Motorboot, griff nach dem Tau und zog das Ruderboot zu sich heran. Mit dem Fuß hielt er es davon ab, gegen den Pier zu stoßen. Überall an seinem Körper lief das Wasser in Strömen hinab; es rann über seine scharf gebogene Nase und über seine Haare. Sie konnte nur sitzen bleiben und warten, bis er verschwand. Aber schließlich streckte er ihr die Hand hin.
    »Wartest du auf eine förmliche Einladung?«
    »Lass mich in Ruhe.«
    »Ich soll dich in Ruhe lassen? Bist du nicht ganz bei Trost? Hier tobt ein Sturm, und du glaubst, ich lasse dich da einfach sitzen?« Der Wind riss ihm die Worte buchstäblich aus dem Mund. »Steh auf. Du holst dir sonst den Tod, und dafür will ich nicht verantwortlich sein.«
    Sie funkelte ihn zornig an. »Meinst du, ich wäre nicht schon längst aufgestanden, wenn ich nur könnte?«
    Er schwieg. Sie wand sich unter seinem neugierigen Blick. Er betrachtete ihre steifen Glieder, ihre seltsam abgespreizten Hände, die wie Krebsscheren auf dem Rand des Ruderboots lagen. Nach dieser kurzen Begutachtung ließ er seine Augen noch einen Moment länger auf ihr ruhen und blickte sie auf eine Art an, die sie nicht gewohnt war.
    Er wischte sich mit den Händen über das Gesicht. »Daran hättest du vielleicht denken sollen, bevor du in dieses verdammte Boot gestiegen bist. Kannst du wenigstens auf diese Seite rutschen, damit wir nicht beide reinfallen, wenn ich dich raushebe?«
    Das konnte sie. Sie biss sich auf die Lippe, als er ihr aus dem Boot half, und kam sich vor wie etwas Eingerostetes, Tiefgefrorenes.
    »Den Rest schaffe ich schon.«
    »Sei doch nicht albern. Ich kann dich doch nicht alleine lassen. Noch nasser kann ich zwar kaum werden, aber wir versuchen jetzt mal was Sinnvolleres.« Mit einem Schwung hob er sie in seine Arme. Völlig gedemütigt schloss sie die Augen. Langsam bewegte er sich über die Planken und machte eine Pause, als sie die Steinstufen erreicht hatten. Als er weiterging, stieß ihr Ohr mit jedem Schritt gegen seine Brust, und sie konnte seine abgehackte Atmung hören.
    »Du rauchst also immer noch.«
    »Jetzt ist wohl kaum die Gelegenheit für Ermahnungen.«
    »Du keuchst doch.«
    »Du bist schwerer, als du aussiehst. Und ich bin alt, vergiss das nicht.«
    Es tat ihm leid, dass er dieses Wort gewählt hatte, das erkannte sie daran, wie er sie in seinen Armen von einer Seite auf die andere schob. Aber es war zu spät. Natürlich erinnerte sie sich. Sie erinnerte sich an alles. Sie zitterte im strömenden Regen.
    »Alice.«
    »Bitte sag nichts. Sag einfach nichts.«
    »Aha, du bist also fest entschlossen, es uns so unangenehm wie möglich zu machen.« Aber danach sagte er nichts mehr und schleppte sie schweigend hinauf zu seinem Haus.
    Der Weg war uneben und aufgeweicht, halb verdeckt von verrottendem Laub und den Ästen der immergrünen Pflanzen, die der Sturm abgerissen hatte. Sie spürte, wie der Boden seine Füße bei jedem Schritt anzusaugen schien, als wateten sie durch einen Sumpf. Vor ihnen sah man das Haus der Baybers leuchten; an den Fensterscheiben lief der Regen hinab, sodass der Lichtschein aus dem großen Zimmer milchig und verschwommen wirkte. An der Hintertür setzte er sie vorsichtig ab. Seine Arme zitterten vor lauter Anstrengung, sie so schonend wie möglich auf den Boden zu stellen. Er drückte die Tür auf, und sie folgte ihm hinein, entwaffnet von dem Schwall warmer Luft, der sie

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