Das Gewicht des Himmels
benimmst dich wie ein wütendes, frustriertes Ding. Wenn man genau weiß, dass es einem nie besser gehen wird …« Sie machte eine kurze Pause und verschluckte die Worte sondern immer nur schlechter . »… dann wird man halb unsichtbar. Die Menschen bemerken dich nicht mehr. Niemand setzt sich gerne genauer mit einer Krankheit auseinander. Aber ich habe festgestellt, dass ich noch immer zu etwas nutze bin. Ich erinnere die Menschen daran zu beten, daran, sich ihr eigenes Glück bewusst zu machen, Gott oder ihrem Karma zu danken, oder was auch immer es war, das mich ausgesucht und sie verschont hat. Ich gehöre zum schlimmsten Club überhaupt. Dem, in dem keiner Mitglied sein will.«
Er sah sie bestürzt an. »Alice.«
»Bitte, lass mich einfach in Ruhe.«
»Das kann ich nicht.« Er erhob sich und streckte ihr die Hand hin. Als sie keine Anstalten machte, sich zu bewegen, zog er sie zu sich heran. Er hob sie hoch und trug sie zum Sofa. Dann setzte er sich neben sie und malte mit der Fingerspitze kleine Kreise auf ihren Oberarm, ganz zart. Sie fühlte sich so schwer, als hätte ihr jemand den Kopf geöffnet und den Körper bis zum Rand mit Steinen angefüllt.
»Was ist das Schlimmste für dich?«
»Darüber will ich nicht reden.«
»Du hast gesagt, dass ich dich nicht kennen würde. Aber das will ich. Ich möchte, dass du mir sagst, was für dich am allerschlimmsten ist, was du noch nie jemandem anvertraut hast.«
»Wieso denn?«
»Weil ich danach frage, Alice. Ich gebe mir Mühe, und das tue ich normalerweise nicht. Ich möchte es einfach gerne wissen.«
Sie war kurz davor, vom Schlaf übermannt zu werden. Ihre Lippen bewegten sich direkt an seinem Nacken.
»Ich habe Angst davor, dass irgendwann nichts mehr von mir übrig ist außer Schmerz. Manchmal kann ich mich selbst und den Schmerz nicht auseinanderhalten. Ich denke darüber nach, dass der Schmerz weg sein wird, wenn ich nicht mehr bin. Dann haben wir uns gegenseitig neutralisiert. Und es wird sein, als wäre ich nie dagewesen.«
Wenn sie noch länger bei ihm saß, würde sie ein überwältigendes Verlangen nach seiner Berührung spüren, das wusste sie genau. Darum stand sie langsam auf und sagte ihm Gute Nacht.
Als sie am nächsten Morgen aus dem Gästezimmer kam, trug sie ein weites Jeanshemd, das sie im Schrank gefunden und mühsam über den Kopf gezogen hatte, dazu die Hosen vom Tag zuvor. Er saß in einem Sessel am Kamin, der jetzt voll mit der Asche des Feuers der vergangenen Nacht war. Vor dem Sessel stand eine Staffelei mit einer mittelgroßen, leeren Leinwand.
»Du bist eine Schlafmütze«, sagte er. »Das hätte ich nie von dir gedacht. Ich warte schon seit Stunden darauf, dass du aufstehst. Aber du schläfst einfach weiter, auch wenn es nach Kaffee duftet oder in der Küche rumort.«
»Hast du Frühstück gemacht? Ich dachte, wir werden bombardiert.« Sie blieb im Türrahmen stehen. Seine freund liche, wie selbstverständlich wirkende Neckerei gefiel ihr. Die Begegnung mit ihm hatte etwas verloren Geglaubtes in ihr wiedererweckt: die Freude an der Unterhaltung, den Spaß am lockeren Geplänkel. Aber es fühlte sich seltsam an, zu dieser frühen Uhrzeit in diesem Haus zu sein. Das Zimmer, das am Abend zuvor ein gemütlicher Zufluchtsort gewesen war, strahlte jetzt die Förmlichkeit des Morgens aus, und sie zögerte, weil sie nicht wusste, ob sie bleiben oder gehen sollte.
»Komm her.«
Sie ging zu ihm hinüber, und er zog sie sanft auf seinen Schoß. Unter seinem Handgelenk lag ein Schal, den er über die Sessellehne drapiert hatte.
»Vielleicht schaffe ich so manches nicht, aber ich bin immer noch in der Lage zu stehen, weißt du?«
»Deine Tabletten«, sagte er, ohne auf sie einzugehen. Er deutete auf eine Reihe von Schachteln und Dosen auf dem Tisch. »Ich habe sie alle geholt. Und es gibt French Toast, wenn du zur Einnahme etwas essen musst.«
Was war schlimmer, dass er ihre Sachen durchwühlt oder dass sie alles verschlafen hatte? »Bist du nicht auf den Gedanken gekommen, dass Evan dich nicht in mein Haus lassen könnte?«
»Evan und ich sind alte Freunde. Außerhalb der Saison kümmert er sich um die meisten Häuser in unserer Straße. Außerdem wollte ich dir keine Ausrede zum Gehen liefern. Also, welche von denen musst du morgens nehmen?« Sie ging die Pillenschachteln durch, und er reichte ihr ein Glas Wasser. Als er die bunte Ansammlung von Tabletten in ihrer Hand sah, schüttelte er den Kopf. Unsicher schluckte sie
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