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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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dasselbe.«
    »Nicht für die meisten Leute.«
    Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken und sog seinen Geruch ein: feuchte Wolle, Staub, Rauch und der berauschende Duft von Trauben, die zu Most geworden waren. Seine Hand berührte ihren Fuß; mit einem Finger fuhr er ihren Rist entlang – an dieser Stelle fühlte sich ihre Haut an wie Seide. Hatte ein anderer Mensch sie jemals dort berührt, einmal abgesehen von den Ärzten, die ihren Fuß in verschiedene Richtungen drehten und sie baten, den Schmerz dabei zu schildern?
    Sie schloss die Augen, hob den Kopf und öffnete die Augen wieder. Sie schaute an die Decke. Diesen Ausschnitt des Zimmers hatte sie schon einmal gesehen – an dem Tag, als sie das Bild von Natalie gefunden hatte. Sie zog ihren Fuß weg.
    »Alice.«
    »Nein.«
    »Es war nicht, wie du denkst.«
    »Beleidige mich bloß nicht, Thomas. Ich habe dich nie für berechenbar gehalten, also erzähl mir nicht den Blödsinn, den mir jeder andere Mensch auftischen würde: Es ist gar nichts passiert .«
    »Glaubst du vielleicht, ich habe mit ihr geschlafen? Mit einem Teenager?«
    Sie schluckte. »Ja. Ich glaube, du würdest fast alles machen und dann auch noch einen Weg finden, um es zu rechtfertigen.«
    Er wandte sich von ihr ab, ließ seine Hand aber auf ihrer Schulter liegen und übte mit den Fingern einen sanften Druck aus.
    »Wie alt war Natalie damals? Siebzehn? Das wäre strafbar gewesen, Alice. Und unmoralisch dazu.«
    »Ich habe das Bild gesehen. Du kannst dir das unmöglich alles im Detail ausgedacht haben.« Bockig schob sie das Kinn vor und schüttelte seine Hand ab.
    »Sie hat mir Modell gesessen, das stimmt.«
    »Nackt.«
    »Splitterfasernackt.«
    »Findest du das lustig?«
    »Nein, gar nicht. Aber ich frage mich, wie gut du deine Schwester eigentlich kennst.«
    »Was soll das denn heißen?«
    »Also, gehemmt kann man Natalie nun wirklich nicht nennen. Ich habe sie nie darum gebeten, sich auszuziehen. Sie ist eines Nachmittags vorbeigekommen und hat mich gefragt, ob ich sie zeichnen würde. Angeblich wollte sie das Bild ihrem damaligen Freund schenken. Ich habe eingewilligt und bin nach nebenan gegangen, um meinen Skizzenblock und die Stifte zu holen. Als ich wiederkam, lag das Kleid deiner lieben Schwester schon am Boden. Sie stand da sans vêtements . Und sie war ziemlich sauer, als ich ihr sagte, dass ich nicht mit ihr schlafen würde.«
    »Willst du mir ernsthaft einreden, sie hätte dich darum gebeten?«
    Mit gequälter Miene erwiderte er: »Jawohl, Alice, sie hat mich darum gebeten. Natalie hatte eine Menge Wut in sich, aus einer Menge von Gründen. Sie war sehr durcheinander. Ich glaube, sie wollte mit mir schlafen, um sich etwas zu beweisen.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Wirklich nicht?« Er musterte sie nachdenklich, dann schüttelte er den Kopf und schloss die Augen. »Es steht mir nicht zu, darüber zu reden. Außerdem, wer weiß? Vielleicht dachte sie ohnehin, ich würde Nein sagen, vielleicht war es nur ein Spiel für sie. Oder sie wollte etwas, was sie nicht bekommen konnte.«
    »Natalie? Wohl kaum.«
    »Hast du dir noch nie etwas gewünscht, was du nicht bekommen konntest?«
    »Was glaubst du denn?« Sie streckte ihm ihre Hände hin – jetzt sah sie sicher furchtbar dumm aus. Die seltsam abgewinkelten Finger, die knotigen, geschwollenen Gelenke. Als hätte man sie aus alten Ersatzteilen zusammengebastelt. Im Kopf hatte sie eine Liste mit Wünschen, die sie niemals laut aussprach, weil sie fürchtete, die anderen Leute könnten sie für selbstmitleidig halten. Ich wünschte, ich könnte wieder ein Seziermesser halten. Ich wünschte, ich könnte alleine im Wald spazieren gehen. Ich wünschte, die Leute würden aufhören, mich dauernd nach meinem Befinden zu fragen. Ich wünschte, ich könnte die Namen von allen Ärzten und Krankenschwestern, mit denen ich je zu tun hatte, einfach vergessen, und die Namen ihrer Ehepartner und Kinder gleich dazu. Ich wünschte, ich könnte Kleider mit Knöpfen und enge, hohe Schuhe tragen. Ich wünschte, die anderen würden mir nicht ständig raten, meine Erwartungen herunterzuschrauben.
    »Ich hätte dich das nicht fragen dürfen.«
    »Nein. Denn du weißt überhaupt nichts über mich oder mein Leben. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man sich davor fürchtet, die Menschen, die einem helfen, irgendwann zu hassen. Denn das sind ja die Menschen, die man lieben sollte. Aber sie sind gesund, und du bist krank; sie sind immer freundlich, und du

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