Das Gewicht des Himmels
stellte den Vogel wieder zurück auf den Tisch und stülpte den Käfig darüber. Wie schade, dass etwas so Schönes in ein unzugängliches Zimmer verbannt war.
Die Gardinen am Fenster waren offen, zurückgebunden mit Kordeln, die in ausgefransten Troddeln endeten. Das Haus war auf allen Seiten von Wald umgeben. Als Alice durchs Fenster in die stumpfe schwarze Nacht hinaus schaute, sah sie bloß ihr verschwommenes Spiegelbild in der Glasscheibe. Mühevoll schälte sie sich aus den nassen Kleidern, die sie in einem Haufen auf dem Boden liegen ließ. Die Sachen, die er ihr gegeben hatte, gehörten ihm, das merkte sie daran, dass sie ihr viel zu groß waren. Das weiche T-Shirt fiel weit über ihre Hüften. Es war verwaschen blau und wurde von einem großen, rorschachähnlichen Tintenfleck auf dem Bauch geziert. Die Pyjamahose war leicht anzuziehen. Sie zog das Band an der Hüfte stramm und bekam mit einiger Anstrengung eine lose Schleife zuwege. Dann sammelte sie ihre eigenen Kleidungsstücke ein und ging zurück ins große Zimmer.
Auch er hatte sich etwas Trockenes angezogen. Er nickte ihr zu, als er sie sah. »Dir stehen die Sachen besser als mir. Darfst du Alkohol trinken?«
Die letzte Tabletteneinnahme hatte sie vergessen; normalerweise schluckte sie ein ganzes Sammelsurium an bunten Pillen. »Hast du Brandy?«, fragte sie. Sie war müde und hatte keine Lust mehr, sich dauernd um ihren Körper zu kümmern – sie wollte einfach ein bisschen vor sich hin dämmern.
Er hob eine Braue, sagte aber nichts, sondern schenkte ein bernsteinfarbenes Getränk aus einer Karaffe in ein Glas. Dann nahm er ihr die nassen Kleider ab und reichte ihr das Glas. Mit beiden Händen umfasste sie es und nahm einen kleinen Schluck. Die warme Flüssigkeit brannte in ihrer Speiseröhre und prallte von innen gegen ihre Brust. Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, wie stark der Brandy war, wie er ihre Augen tränen ließ und den Geist angenehm benebelte. Thomas verschwand aus ihrem Gesichtsfeld, als sie sich in ihrem Sessel neben dem Kamin zurücklehnte und durch Hin- und Herrutschen nach der am wenigsten schmerzhaften Position suchte.
Dieses Zimmer war genauso, wie sie es in Erinnerung hatte. Es schien erst gestern gewesen zu sein, dass sie auf der Suche nach ihm weiße Fußstapfen auf dem staubigen Boden hinterließ; dass sie auf dem Sofa herumzappelte, während er die Stirn in Falten legte und sie zeichnete. Sie hatte das seltsame Gefühl, sich in einem Museum zu befinden, dessen Kurator seine Arbeit ziemlich nachlässig verrichtete. Sie betrachtete den feinen Staubfilm, der alles überzog: einen Stapel Bücher, das Zifferblatt einer Uhr, die Leuchterkerzen in ihren schweren Messingständern.
Thomas kam zurück in den Raum und schürte das Feuer, bevor er sich in den Sessel ihr gegenüber setzte. Seine nackten bleichen Füße wiesen einen ausgeprägten Spann auf. Der kleine Zeh des linken Fußes war verkrümmt, offenbar ein Andenken an einen früheren Bruch. Alice fand es unangenehm intim, seine bloßen Füße zu sehen, und spannte jeden Muskel unter dem dünnen Shirt an. Vor acht Jahren hatten sie sich zuletzt getroffen. Wie unwichtig der Altersunterschied jetzt doch war!
»Da ist eine kleine Porzellanfigur im Gästezimmer.«
Er stocherte noch einmal in den glühenden Kohlen herum. »Ich wusste gar nicht mehr, dass ich sie dort hingestellt habe.«
»Ist es deine? Danach sieht sie überhaupt nicht aus.«
»Kennst du mich denn wirklich so gut?« Er lächelte. »Du kannst sie haben, wenn du sie willst.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, sie gehört dir gar nicht.«
»Scharfsichtig wie eh und je. Du hast recht. So gesehen bin ich nicht der rechtmäßige Eigentümer. Ich habe sie nämlich gestohlen.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Solltest du aber. Ich hab sie meiner Mutter gestohlen. Sie liebte die Figur. Ein Geschenk von einer guten Freundin, und ziemlich wertvoll obendrein. Hast du schon mal von Dorothy Doughty gehört?«
Alice schüttelte den Kopf.
»Sie ist vor ungefähr zehn Jahren gestorben. Sie und ihre Schwester Freda waren Nachbarinnen meiner Mutter in Sissinghurst. Ich glaube, Freda hat manchmal auf meine Mutter aufgepasst, als sie noch klein war. Die Schwestern waren Bildhauerinnen und hatten zu Hause einen eigenen Brennofen. Dorothy war Ornithologin und Naturforscherin, wie du vielleicht gemerkt hast. Sie fertigte gerne Modelle von den Vögeln, die sie in ihrem Garten beobachtete. Sie und Freda haben freiberuflich für
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