Das Gewicht des Himmels
umwehte.
»Und jetzt wirst du mich bestimmt dafür ausschimpfen, dass ich aus dem Haus gegangen bin, ohne das Feuer auszumachen.«
»Nein. Es ist nämlich ganz wunderbar, in der Wärme zu sein«, erwiderte sie, noch in der Diele stehend und mit den Zähnen klappernd. »Ich bleibe bloß eine Minute, um mich wieder aufzuwärmen, dann gehe ich.«
»Alice.«
Das war alles, was er sagte, aber es genügte. Weinen war in diesem Moment das Dümmste, aber sie fragte sich, wie sie es geschafft hatte, es die ganze Zeit über zu unterdrücken. Jahre der Abhängigkeit von anderen Menschen lagen hinter ihr, und sie wusste nicht, wie viele es in Zukunft noch werden würden. Darum hatte sie sich bislang einfach darauf konzentriert, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, ihrer Krankheit möglichst gelassen zu begegnen. Aber in jenem Augenblick wünschte sie sich nur noch, jemand hätte die Macht, sie wieder ganz gesund zu machen. Alles wiedergutzumachen.
»Komisch, immer wenn ich mit Frauen zusammen bin, fangen sie an zu weinen.« Er hielt ihr sein Taschentuch hin, aber es war genauso nass wie seine gesamte Kleidung, und als sie danach griff, tropfte das Wasser von ihrem Arm hinab.
Er starrte sie an. Als sie seinem Blick endlich begegnete, schloss er die Augen und schüttelte den Kopf. »Tut mir sehr leid, das mit deinen Eltern«, begann er. »Myrna Reston hat es mir gesagt.« Er ging in eins der Schlafzimmer und kam mit einigen Kleidungsstücken zurück.
»Da sind keine Knöpfe dran«, erklärte er. »Brauchst du Hilfe?«
»Ich kann nicht …«
»Wir sind beide nass bis auf die Knochen. Der Regen wird so bald nicht nachlassen, und ich glaube kaum, dass es dir guttut, noch länger in den nassen Sachen herumzusitzen. Bitte, Alice.«
Sie stand auf. Sie löste sich nur ungern von den munter züngelnden Flammen, die ihre Haut langsam wieder auf Normaltemperatur brachten.
»Dahinten ist ein Gästezimmer, in dem du dich umziehen kannst.« Er deutete in Richtung einer Tür am anderen Ende des Flurs.
Sie nahm ihm die Kleider ab und ging den dunklen Flur hinab. Das Gästezimmer, wenn es tatsächlich eins war, war dreimal so groß wie ihr Zimmer im Studentenheim. Ein hohes Doppelbett stand an der hinteren Wand zwischen zwei Fenstern mit ausgeblichenen kaffeefarbenen Vorhängen, die bis auf den Boden reichten. Auf der anderen Seite des Raumes nahm ein Kleiderschrank mit schnörkeligen Verzierungen viel Platz ein. Ein schwacher, süßlicher Parfümduft – vielleicht Tuberose oder Gardenie – lag in der Luft. Anscheinend haftete er den Bettlaken an.
Auf dem Nachttisch, neben der Lampe, stand ein goldener Vogelkäfig, und darin saß ein Porzellanvogel auf einem Zweig. Das ganze Ding war vielleicht fünfzehn Zentimeter hoch. Entzückt hob Alice den bodenlosen Käfig an und nahm das Figürchen in die Hand. Zum Glück hatte das wärmende Feuer ihr das Gefühl in den Fingern zurückge geben. Der Vogel war ein Passerina caerula, ein Azurbischof, im Balzfederkleid. Die Figur war sehr sorgfältig gearbeitet, und sie fuhr mit der Zeigefingerspitze bewundernd über den Rücken des Vogels. Kopf, Rücken und Brust strahlten kobaltblau, wobei Rumpf und Kopf am hellsten leuchteten. Schwanzfedern und Flügel waren dunkelgrau eingefärbt. Die auffälligen Flügelbinden waren dunkelbraun, und um die Augen herum erstreckte sich eine schwarze Maske bis hin zum kompakten silbergrauen Schnabel. Der Azurbischof saß auf einem Hamamelisstrauch, dessen ovale Blätter ebenfalls sehr sorgfältig nachgebildet waren, mit dunkelgrünen neben hellgrünen Partien.
Alice drehte die Figur vorsichtig um, fand aber keine Signatur, die den Künstler verriet. An der Wand über dem Nachttisch hing ein Aquarell, das den gleichen Vogel zeigte, in derselben Pose. Am unteren Rand standen die handgeschriebenen Zeilen: »Für Letitia Bayber, unsere liebe Freundin. Studie eines Modells.« Dazu der Namenszug D. Doughty.
War dies das Zimmer von Thomas’ Mutter? Bislang hatte Alice nur ein Foto von ihr gesehen, nämlich das in dem Zeitschriftenartikel, und es war schwierig, sich die Frau, die so ausdruckslos neben Ehemann und Hund saß, als Freundin der Person vorzustellen, die den wunderschönen Vogel geschaffen hatte. Sie sah sich noch einmal im Zimmer um. Ihr fiel auf, wie schlecht der Vogel zu dem Rest der Einrichtung passte; er war zart und fragil, und alles andere wirkte riesig und einschüchternd. Die Möbel waren aus dunklem Mahagoni, die Farben gedämpft. Alice
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