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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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ihre Medizin.
    »Leg deinen Arm auf meinen.«
    Als sie tat wie geheißen, wand er mit der linken Hand den Schal um ihr Handgelenk und verband es mit seinem eigenen.
    »Was machst du denn da?«
    »Das wird ein Experiment. Pass auf.«
    Mit der linken Hand legte er einen Pinsel zwischen ihre Finger. Dann lenkte er ihre aneinandergebundenen Hände zur Palette, nahm einen Klecks Dunkelblau auf und steuerte die Leinwand an.
    »Jetzt wirst du unsere Hände führen.«
    »Ich kann nicht.«
    »Natürlich kannst du. Denk nicht zu viel darüber nach, schließ einfach die Augen. Was würdest du malen, wenn du malen könntest?« Er lachte. »Blöde Frage. Einen Vogel, ganz klar. Bird. Oiseau. Uccello . Okay, stell dir einen Schwarm im Flug vor. Denk nicht daran, was du siehst. Konzentriere dich darauf, wie es sich anfühlt, wenn sie dich überraschen, darauf, wie dir der Atem stockt. Konzentriere dich darauf, was du jetzt spürst, hier.« Er legte seine linke Hand kurz an ihre Kehle und schlang seinen Arm dann um ihre Hüfte. »Genau das willst du malen.«
    Sein Mund so nah an ihrem Ohr. Sie stellte sich einen Schwarm Amseln vor, die wie ein schwarzer Vorhang in den Himmel aufstiegen, deren Rufe anschwollen, bis sie sogar den Klang ihres eigenen Herzschlags übertönten. In gleichbleibendem Rhythmus bewegte sich ihre Hand vor und zurück, schwerelos auf seiner schwebend.
    »So. Mach die Augen wieder auf.«
    Sie blinzelte erst mit einem Auge, bevor sie beide ganz öffnete und erstaunt die Leinwand betrachtete: ein wasserblauer Himmel, bedeckt von Pinselstrichen, die fliegende Vögel andeuteten. »Das haben wir gemalt?«
    »Du hast es gemalt.«
    Sie war glücklich darüber, etwas geschaffen zu haben, auch wenn es ganz simpel war. Das war besser, als etwas bloß zu untersuchen oder zu dokumentieren. »Ich will noch mehr malen. Dein Haus, zum Beispiel, so wie ich es gestern im Regen vom See aus gesehen habe.«
    »Ich freue mich, dass dein Ehrgeiz erwacht ist. Wir können alles malen, was du willst. Aber du solltest nicht deine ganze Energie auf eine einzige Sache verwenden.«
    Thomas löste den Schal von ihren Handgelenken, er flatterte zu Boden. Immer wieder flüsterte er ihren Namen, bis er ganz exotisch klang, so als gehörte er zu einer Fremden. Aber sie war ja eine Fremde, das wurde ihr jetzt bewusst. Sie war die Fremde, deren Verhalten ihr selbst merkwürdig vorkam, die Fremde, die überhaupt nicht mehr versuchte, sich zu verstecken oder sich kleinzumachen. Sie presste sich an ihn, bis sie seine Rippen spüren konnte. Er atmete schnell, während er an der Naht ihres Ärmelbündchens herumspielte. Sie drehte sich zu ihm um und legte den Kopf an seinen Hals. Er hatte schon geduscht; sein Gesicht roch frisch nach Rasierschaum, sein Atem dumpf nach Kaffee und Rum. Sie küsste seine Kieferpartie, wollte ihn an jener Stelle berühren, an der seine Haut die Farbe wechselte, wie eine Spalte in einer Sanddüne. Mit der Hand fuhr sie unter sein Hemd und legte den Kopf zurück. Ihr Nacken war der einzige Körperteil, der noch beweglich, noch in seinem ursprünglichen Zustand war. Als er seinen Daumen auf ihre Pulsader am Hals legte und sanften Druck ausübte, verlor sie die Kontrolle über sich.
    »Erzähl mir, woran du gerade arbeitest.«
    »Vögel kommen nicht vor. Ich glaube, es würde dir nicht gefallen.« Mit den Händen fuhr er ganz sanft über ihren Körper und enträtselte die Geschichte, die auf ihrer Haut geschrieben stand: in Form von Kindheitsnarben, Fleisch, das nie die Sonne gesehen hatte, Falten, die als Folge ge wohnheitsmäßiger Bewegungen entstanden waren. Er hatte das Bett mit so vielen Kissen bestückt, dass es aussah wie eine Festung. Sie war umgeben von Schaumstoff und Daunen, und ihre Gelenke ruhten auf Buchweizenkissen mit verblassten Seidenbezügen.
    »Wonach entscheidest du?«
    »Was ich male?« Er drehte sich im Bett um, zog dadurch das Laken über ihnen fort und umfasste ihre Hüfte. So holte er sie zu sich heran und vergrub seine Nase in ihrer Haarwolke. Sie konnte seinen Schweiß an ihrem Körper riechen und auf seinem Oberarm den Duft des Shampoos, mit dem er ihr in der Dusche die Haare gewaschen hatte: Sandelholz und Zitrus.
    »Ich spreche normalerweise nicht darüber. Nicht, weil ich abergläubisch wäre. Die Kunst ist keine Religion für mich. Aber ich finde es schwierig, die richtigen Worte dafür zu finden.«
    Sie hielt still, glitt in die Unsichtbarkeit, als würde er vielleicht doch etwas sagen, wenn

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