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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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er vergaß, dass sie da war.
    Er seufzte und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Ich glaube, ich suche nach dem, was nicht zu sehen ist, und versuche, das auf die Leinwand zu bringen. Nicht den negativen Raum, eher die Essenz einer Sache oder eines Orts.«
    »Was, wenn du mich malen würdest?«
    Thomas strich mit dem Daumen über ihre Unterlippe. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, du möchtest ein Kompliment hören.« Er streckte sich, mit einer geschmeidigen Bewegung, die seinen Körper eine Winzigkeit von ihrem entfernte. »Es gibt Dinge, die sind so schön, dass ich niemals versuchen würde, sie zu malen.« Er kletterte aus dem Bett und verschwand den Flur hinunter. »Geh nicht weg!«, rief er. »Ich habe etwas für dich.«
    Aber sie wollte überhaupt nicht weggehen. Jedes Mal wenn er sie kurz verließ, wartete sie auf den Klang seiner zurückkehrenden Schritte. »Das habe ich für dich aufgehoben«, sagte er und kam wieder ins Bett zurück. Er berührte sie sanft an den Brüsten. Sie bekam Gänsehaut. Ihr war gleichzeitig heiß und kalt, ein Teil von ihr war wie tiefgefroren, ein anderer brodelte wie Magma. Er warf ein Buch auf das Bett: Mary Olivers Ich bleibe und andere Gedichte . »Vermutlich schuldest du der Bücherei eine ganze Menge Überziehungsgebühren.«
    Zwei Tage. Drei. Mit ihm hatte sie weder das Verlangen nach Essen noch nach Schlaf. Sie wollte die ganze Zeit über wach sein, in seinem Bett liegen, reden oder schweigen – ganz egal.
    »Mach das Licht aus.«
    Er tat wie geheißen, und als sich das Zimmer verdunkelte, schien er heller zu werden. Seine Haut schimmerte blass und kalt, wie leuchtender Marmor.
    »Ich würde dich gerne sehen«, sagte er.
    »Dann stell dir vor, du malst mich, und mach die Augen zu.«
    Sie hatte seinen Morgenmantel an und zog ihm das Laken weg. Zum ersten Mal seit Tagen schien draußen die Sonne und erfüllte das Zimmer mit Licht. Mit der Zungenspitze fuhr sie über seine Hüfte und schmeckte das Salz auf seiner Haut. Sie konnte ihre Schmerzen besser unterdrücken, wenn sie sich auf etwas Gegenwärtiges konzentrierte, auf etwas, das sie wollte. Er wand sich und grunzte im Halbschlaf. Sie strich über seinen Rücken, berührte jeden Wirbel – Hals, Brust, Lenden, Kreuzbein – und bewunderte die Perfektion seines Rückgrats, bevor sie mit den Fingern über einen erhabenen Ring aus Narbengewebe auf seiner linken Pobacke fuhr.
    »Was ist denn da passiert?«
    »Hm.«
    Sie stupste ihn in die Schulter. »Was hast du da gemacht?«
    »Wo?«
    »Hier.« Sie stupste ihn noch einmal und umkreiste die Narbe.
    Er sprach unverständlich, noch ganz benommen. Ins Kissen hinein murmelte er: »Neela. Die böse kleine Töle hat mich gebissen.«
    Eine undeutliche Erinnerung kam auf sie zugeschwommen, langsam, aber bestimmt, sie wich jedem Hindernis aus, das Alice ihr in den Weg warf. Das waren Natalies Worte, aber jetzt kamen sie aus Thomas’ Mund. Böse kleine Töle . Sie versuchte, sich nicht an den Rest zu erinnern, aber die Worte ihrer Schwester wickelten sie ein und zogen sie in den Abgrund. Das hat sie nicht davon abgehalten, Thomas zu beißen. Ich hab die Narbe gesehen.
    Sie schloss die Tür des Gästezimmers ab. Dann zog sie die Gardinen zu und riss sich den Morgenmantel vom Leib. Sie ertrug das Gefühl des Stoffes auf ihrer Haut nicht länger und genoss den scharfen Schmerz, den die schnelle Bewegung hervorgerufen hatte. Ihre eigenen Kleider waren schlammverkrustet und rochen nach See, aber sie streifte sie sich mühevoll über. Sie setzte sich aufs Bett und hielt sich die Ohren zu, um seine Geräusche auszublenden: wie er gegen die Tür hämmerte, ihren Namen rief und sie kurz danach verfluchte. Sie hörte, wie er wegging und zurückkam und wieder wegging und wieder zurückkam. Sie hörte, wie sein perfekter Rücken im Flur an der Wand entlang nach unten glitt. Sie hörte die Flasche und das Glas und seine Stimme, die vom Alkohol langsam weich wurde. Sie hörte seinen Atem, seine Reue, seine Entschuldigungen. Sie hörte ihn schlafen.
    Noch einmal sah sie sich im Raum um, bevor sie ging, und prägte sich jede Einzelheit ein. Die dunklen Vorhänge, der Teppich vor dem Kleiderschrank, inzwischen voller Matsch, die Kissen, die sich hoch auf dem Bett stapelten, steif und proper, als hätte sie nie dort geschlafen in jener ersten Nacht nach dem Sturm. Der Drahtkäfig auf dem Nachttisch. Sie hob ihn an und strich noch einmal über den Azurbischof, über sein tiefes,

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