Das Gewicht des Himmels
ein Doughty- Vogel. Was hat das mit unserer Aufgabe zu tun, die fehlenden Tafeln zu finden? Mit dem Vogel kann alles Mögliche passiert sein. Vielleicht hat Letitia ihn nach Frankreich mitgenommen, vielleicht hat Thomas ihn sich genommen, vielleicht wurde er verkauft oder an ein Museum gespendet. Wir wüssten dann bloß, dass er irgendwann einmal hier gewesen ist. Abgesehen davon liegt über allen Gegenständen in diesem Zimmer der Staub von mindestens zwanzig Jahren. Untersuchen Sie dann wirklich mögliche Rückstände oder nur ganz normalen Staub?« Er beobachtete, wie sich Stephens optimistische Miene ein wenig eintrübte.
»Wir wissen nichts mit Sicherheit, Finch. Auch wenn das Ganze nichts mit unserem Gemälde zu tun hätte, wäre es ein spannender Fund. Und er könnte vielleicht doch noch wichtig werden.«
»Da haben Sie die richtigen Stichwörter genannt. Das Ganze wäre allerdings bloß spannend und wichtig, wenn Sie ihn finden können.«
Stephen stupste mit der Fußspitze gegen den Teppich. Finch konnte sich ihn lebhaft als ein Kind vorstellen, das immer Außenseiter war und fieberhaft nach irgendetwas suchte, was ihm Zugang zur Clique gewährte. Ein Hauch von Schuldgefühl stieg in Finch auf. »Na ja, wahrscheinlich ist es am besten, Sie machen den Test, vielleicht kommt ja doch etwas dabei heraus.«
Stephens Miene hellte sich wieder auf. »Nun, wenn Sie dafür sind …«
»Cranston möchte sicher, dass wir in alle Richtungen ermitteln. Gibt es hier sonst noch was, um das wir uns kümmern sollten? Ich hatte auf Schriftstücke gehofft, vielleicht irgendetwas, auf dem wir eine Adresse finden, aber der Schreibtisch ist ausgeräumt worden. Derjenige, der hier durchgeputzt hat, hat sauber gearbeitet.«
»Ich mache nur schnell ein paar Fotos vom großen Zimmer«, sagte Stephen, und sein Gesicht verschwand sofort hinter der Kamera. »Oder wollen Sie lieber, dass ich mich auf die Suche nach Fingerabdrücken mache?«
»Können Sie das denn?«
»Technisch gesehen, nein. Dann müssen wir wohl gleich aufbrechen.«
Der Gedanke, das düstere Haus und die unheimliche, schneebedeckte Landschaft bald hinter sich zu lassen, heiterte Finch auf. »Sollte unsere Würde nach der Durchsuchung noch intakt sein, wüsste ich fürs Abendessen ein nettes Restaurant in Syracuse. Da gab es immer einen hervorragenden Schweinebraten mit Äpfeln. Eine warme Mahlzeit wird Sie bestimmt aufmuntern. Wir nehmen uns ein Hotelzimmer, schlafen uns so richtig aus und brechen gleich morgen früh zu den Kesslers auf.«
Soweit Stephen beurteilen konnte, hatten die Wetterver hältnisse keinen Einfluss auf Finchs Fahrweise. Immer fuhr er zu schnell, vernachlässigte den Blick in den Rückspiegel und überholte andere Fahrer, die sich brav an das Tempolimit hielten. Stephen klammerte sich an die Armlehne, als das Auto auf einem besonders glatten Stück Asphalt ins Schleudern kam.
»Stephen, daran müssen Sie immer denken: Wenn der Wagen schlingert, nehmen Sie den Fuß vom Gas und lenken Sie in die Richtung, in die Sie fahren wollen.«
»Ich will nach Hause. In welcher Richtung ist das?«
»Sehr gut! Mit Humor bleiben Sie als Fahrer ruhig, selbst wenn die äußeren Bedingungen nicht optimal sind.«
»Komisch, ich hatte gedacht, als Fahrer bleibt man am ehesten ruhig, wenn man bei suboptimalen äußeren Bedingungen überhaupt nicht fährt.«
Finch schien tatsächlich zu glauben, dass Stephen bald den Führerschein machen wollte – wo er in Wirklichkeit doch mit jeder im Auto verbrachten Minute den öffentlichen Nahverkehr mehr schätzen lernte. Als Finch endlich auf den Hotelparkplatz einbog und zum Stehen kam, sprang Stephen wie ein Verrückter aus dem Auto. Seine Knie zit terten. Ob nun aus Angst, vor Kälte oder wegen eines ortho pädischen Problems – jedenfalls stand er jetzt wieder auf festem Boden.
Während des Abendessens brauchten sie nur fünf Minuten, um ihre bisherigen Ergebnisse zusammenzufassen. Warum hatte Bayber gewollt, dass sie im Sommerhaus anfingen, wenn dort gar nichts zu finden war? Stephen hatte zwar nicht erwartet, dass die Sache einfach war (oder etwa doch?), aber er hatte sich zumindest ein paar Anhaltspunkte erhofft, die sie auf die richtige Fährte bringen würden. Vor der Abreise hatte er stundenlang im Internet nach Hinweisen auf den derzeitigen Aufenthaltsort der Kessler-Schwestern gesucht, aber erstaunlich wenig über sie gefunden. Natalie und Alice Kessler. Eltern verstorben im Jahr 1969, keine lebenden
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