Das Gewicht des Himmels
Verwandten. Zwei junge Frauen, sechsundzwanzig und dreiundzwanzig, wie vom Erdboden verschwunden, nachdem sie 1972 aus dem Stonehope Way in Woodridge, Connecticut, weggezogen waren. Zwei attraktive junge Frauen, die doch irgendjemandem aufgefallen sein mussten?
»Wir können nicht mit leeren Händen zurückfahren«, sagte er zu Finch. Der Kellner hatte versucht, den Brotkorb vom Tisch zu nehmen, als noch ein Brotkanten übrig war, woraufhin Stephen ihm den Korb wieder aus den Händen wand – wenn das Essen schon auf Firmenkosten ging, wollte er keinen Bissen verkommen lassen. Während er an der Brotkruste knabberte, kritzelte er auf seiner Serviette herum.
»Sie wissen schon, dass das kein Papier ist, oder?«, fragte Finch. Stephen stopfte die Serviette in seine Tasche, und Finch schüttelte den Kopf. »Stephen, eine Frage: Was erwarten Sie zu finden?«
»Die beiden anderen Gemäldetafeln, natürlich. Sie vielleicht nicht?«
»Um ehrlich zu sein, nein.« Finch lehnte sich in seinem Stuhl zurück und winkte dem Kellner. Er nahm einen Schluck Kaffee, hob den Zeigefinger und tupfte sich den Mund ab. »Ich kenne Thomas. Irgendwas will er von uns.«
»Er will, dass wir die beiden anderen Teile des Gemäldes finden.«
»Wieso?«
Finchs Frage brachte Stephen durcheinander. Er hätte sich lieber auf die Aufgabe, die vor ihm lag – nämlich die beiden fehlenden Tafeln des Triptychons aufzuspüren –, konzentriert, als über Baybers Beweggründe zu rätseln. »Also, ich denke, weil sie ein Teil seines Vermächtnisses sind. Stellen Sie sich mal das schlimmstmögliche Szenario vor, Finch. Wir finden die Kessler-Schwestern, und sie wollen nicht verkaufen.« Das war wirklich das Schlimmste, was Stephen sich vorstellen konnte. Dann wäre er nämlich in null Komma nichts wieder zurück in seinem Büro und müsste sich wieder mit der Schätzung von Puppen und Erinnerungsstücken aus dem Bürgerkrieg herumschlagen. »Zumindest würden alle Bilder dann in sein Werkverzeichnis aufgenommen. Vielleicht geht es ihm letztlich darum – dass alles, was er in seinem Leben geschaffen hat, seinen Platz findet.«
»Wann hat er die Bilder gemalt, was glauben Sie? Vor vielleicht fünfunddreißig Jahren?«
»Das ursprüngliche Bild schon. Aber die Übermalung kam ein paar Jahre danach.«
»Warum hat er bis jetzt damit gewartet, nach den anderen Teilen zu suchen?«
»Also wirklich, Finch«, sagte Stephen und arrangierte die Streuer für Salz und Pfeffer neu. »Das ist doch nicht unser Problem.«
Der Professor seufzte. »Ich will bloß nicht, dass Sie sich zu viel Hoffnung machen.«
Finchs resignativer Tonfall versetzte Stephen in Panik. »Ich glaube, Sie erkennen den Ernst meiner Lage nicht ganz, Professor. Sie haben gehört, was Bayber gesagt hat. Er will das Werk nur vollständig verkaufen. Aus welchem Grund sollte Cranston mich weiter auf die Sache ansetzen, wenn wir die anderen Tafeln nicht finden?«
»Weil Sie über bemerkenswerte Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen?«
Stephen schüttelte den Kopf.
»Sie hoffen also darauf, dass diese Sache einiges für Sie ändert.«
Da begriff Stephen, dass Finch vieles mit seinem Vater gemeinsam hatte: Wie Dylan war Finch ein anerkannter Fachmann, umgeben von Familienmitgliedern und Freunden, die ihn mochten und über seine Witze lachten. Hatte Finch jemals erlebt, wie es war, wenn sich in seiner Gegenwart die Leute unsicher anblickten? Wie es war, wenn sich die eigene Stimme unerwartet hob und sich alle Köpfe im Raum drehten und einen anstarrten? Hatte er jemals eine logische Schlussfolgerung gezogen und war dafür als herzlos verdammt worden? Wie konnte er Finch bloß erklären, dass dies die Chance seines Lebens war? Wenn er die fehlenden Tafeln entdeckte, konnte er vielleicht wieder auf den Erfolgszug aufspringen, und die Leute würden sich ihm zuwenden, ob sie wollten oder nicht.
»Wenn wir die Karriereleiter betrachten, bewege ich mich gerade auf der untersten Stufe. Noch tiefer, und ich arbeite künftig unterirdisch.«
Woodridge war ein kleiner Ort am nördlichsten Zipfel von Fairfield County in Connecticut. Das Haus der Kesslers stand am Ende eines langen, gewundenen Sträßchens, das von Platanen und Nesselbäumen gesäumt wurde. Letztere schienen einer Pflanzenkrankheit, die ihre Spuren an der Rinde der Platanen hinterlassen hatte, gerade noch entgangen zu sein. Die beiden Männer hatten die Straße schon zur Hälfte durchfahren, da entdeckte Stephen das Haus, ein gelbes
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