Das Gewicht des Himmels
ihr zu folgen. »Es ist nicht unbedingt unser Geschmack, verstehen Sie? Darum haben wir alles in den hinteren Flur gehängt. Da gehen nur wir beide dran vorbei.«
Der hintere Flur war düster, aber Stephen konnte schon von Weitem die Rahmen an der Wand erkennen. An Ort und Stelle begann er zunächst einen Routinecheck: ein paar Lithografien, einige signierte Poster und Fotos. Als er schon fast am Ende des Flurs war, blieb er plötzlich stehen und trat einen Schritt zurück.
Er war so fixiert gewesen auf die fehlenden Teile des Gemäldes, dass er an etwas anderem glatt vorbeigelaufen war. Die Edells hatten die Triptychon-Teile nicht. Nichts im Flur hatte die richtige Größe dafür. Alice und Natalie hatten jedoch eine Bleistiftskizze zurückgelassen: signiert von Bayber, datiert August 1963.
Stephen stellte sich vor die Skizze und blendete das Geplauder der Edells einfach aus. Das stammte aus Baybers Frühwerk; damals war er erst achtundzwanzig gewesen. Das große Talent des Malers war schon zu sehen, aber zu seinem eigenen Stil hatte er noch nicht gefunden. Dennoch hatte er es geschafft, die Welt dieser Familie mit einer simplen Buntstiftzeichnung einzufangen. Ihre Emotionen hatte er in Farben übersetzt, in dicke und dünne, heftige und zarte Striche.
Familie Kessler saß auf einem Sofa – demselben wie auf dem Triptychon. Wenn man alle vier zusammen sah, erkannte man, welche Gesichtszüge an wen vererbt worden waren. Alice saß auf der linken Armlehne. Sie wirkte jünger als auf dem Ölgemälde, aber ihre Persönlichkeit war deutlich zu erkennen. Bayber stellte sie als intelligentes und wissbegieriges Mädchen dar, nur durch eine hochgezogene Augenbraue und die Position ihres Kopfes. Die Eltern sa ßen eng beisammen, obwohl das Sofa eigentlich relativ breit war. Sie lehnten sich aneinander, schienen dabei aber in Gedanken verloren – als wären sie so sehr an die Gegenwart des anderen gewöhnt, dass sie gar nicht getrennt sitzen konnten.
Natalie saß auf der rechten Armlehne neben ihrer Mutter. Für ihre Darstellung hatte Bayber andere, kühle Farben benutzt, und die Striche waren kürzer und kräftiger, die Winkel etwas kantiger. Man erahnte eine unüberbrückbare Distanz zwischen der älteren Tochter und dem Rest der Familie. Bayber zeigte eine Entfremdung, die so deutlich war, dass man das Bild kaum betrachten konnte, ohne ein gewisses Unbehagen zu verspüren. Stephen verstand, warum sie die Zeichnung zurückgelassen hatten.
»Schon damals konnte man seine Begabung sehen«, raunte Finch. Der Hintergrund war nicht sehr detailreich ausgearbeitet, aber Stephen konnte trotzdem einige Dinge aus dem Sommerhaus entdecken: ein paar Bücher, die in einem Stapel auf dem Couchtisch vor dem Sofa lagen, eine große Uhr, das breite, steinerne Kaminsims. Er zog die Kamera hervor und machte eine Aufnahme des Bildes.
»Was machen wir denn damit?«
Finch wirkte überrascht. Leise sagte er: »Sie haben Ihre Notizen, Sie haben Ihre Fotos. Mehr können wir nicht tun. Das Bild steht uns nicht zu, bloß weil wir es entdeckt haben. Und es gehört auch Bayber nicht. Er hat es ihnen geschenkt. Es scheint – wie alles andere – den Kessler-Schwestern zu gehören. Wo immer sie auch sind.«
Esme schien es gar nicht zu gefallen, dass Stephen fotogra fierte. Sie hob die Nase, als könnte sie schlechte Nachrichten riechen. Stephen deutete auf den Bayber und lächelte sie breit an. »Meine Mutter wird mir das nicht glauben. Sie hat genauso ein Bild.«
Diese Erklärung beeindruckte sogar Finch.
Sie verließen die Edells, die ihnen zum Abschied freundlich nachwinkten, während sie sich durch das Labyrinth aus Schrott im Vorgarten kämpften. Esme winkte noch, als sie losfuhren, was Stephen dazu zwang, es ihr gleichzutun, bis sie um die Ecke gebogen waren. Erst dann sank er verstört im Sitz zusammen.
»Dass die nicht kapieren, was sie da haben! Was, wenn den Sachen etwas passiert? Was, wenn sie alles verkaufen?«
»Stephen, sie haben die Sachen seit fünfunddreißig Jahren. Und daran ändert sich so bald nichts. Können Sie sich denn nicht damit trösten, dass Sie jetzt wissen, wo sich die Zeichnung befindet? Bedenken Sie, es gibt wahrscheinlich nur eine Handvoll Leute auf der Welt, die davon wissen: Natalie und Alice, Thomas, der Mann von der Immobilienverwaltung, die Edells. Und jetzt noch Sie und ich.«
»Sie hatten wirklich keine Ahnung?«
»Es gibt offenbar eine ganze Menge, was ich über Thomas nicht weiß.«
»Ich finde
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