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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Wesen, das auf halbem Wege aus einem Kokon heraus stecken geblieben war. Die Schwes ter beobachtete, wie Stephen sich auf einen Klappstuhl neben das Bett setzte und schweigend Baybers Hand nahm. Die Augen des Malers blieben geschlossen.
    »Mr. Bayber, ich bin’s, Stephen Jameson. Ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen.«
    Bayber riss plötzlich die Augen auf. Er glitt kaum merklich in Stephens Richtung und öffnete den Mund einen Spaltbreit, sodass man eine Reihe gleichmäßiger Zähne sah, die durchsichtig bläulich schimmerten. Stephen sah, wie Bayber schluckte, und hörte das Zischen seines Atems. Aber die einzigen Laute, die er hervorbrachte, waren die klickenden Geräusche der Luft, die in seiner Kehle steckte. Er blinzelte nicht. Stephen rutschte angespannt auf dem Stuhl herum und spürte, wie sich ein altbekanntes Gefühl in seinem Magen breitmachte – Schuld. Das war es nämlich, was er beim Tod seines Vaters verpasst hatte: die letzten, unangenehmen Stadien. Der Verlust der Autonomie, das Dahinsiechen, der langsame Abschied. Das alles hatte er seiner Mutter allein überlassen. Er bezweifelte zwar, dass er seinen Eltern hätte Trost spenden können, bewunderte seine Mutter aber trotzdem dafür, dass sie ihn wegen seiner Abwesenheit nicht hasste.
    Bayber, nur noch ein Schatten seiner selbst, hatte nicht mehr die Kraft, einen Finger zum Mund zu heben oder die Schwester anzuweisen, ihn hinauszuwerfen. Jetzt schien es kaum glaublich, dass Stephen vor nicht allzu langer Zeit vor diesem Mann gestanden und versucht hatte, sein aufgeregtes Stottern und seine zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen, während er seine impertinenten Vermutungen vorbrachte. Aber nun wusste er, wie die Dinge wirklich lagen – oder hatte zumindest starke Indizien für seine These, und die wollte er jetzt laut aussprechen. Bayber konnte nichts tun, um ihn daran zu hindern.
    »Mr. Cranston hat mir große Freiheiten bei der Untersuchung des Gemäldes eingeräumt. Wir mussten eine Reihe von forensischen Tests durchführen, um dem potenziellen Käufer das nötige Material im Hinblick auf die Echtheit des Werkes an die Hand zu geben, also, um ein hieb- und stichfestes Gutachten erstellen zu können. Die dazu notwendigen Geräte haben wir bei Murchison & Dunne allerdings nicht.«
    Er machte eine kurze Pause, weil er unsicher wurde und darauf hoffte, dass irgendeine Reaktion auf seine Worte erfolgte. Seine Handflächen wurden feucht, und er fragte sich, ob Bayber langsam ungeduldig oder gar zornig wurde, aber da der Maler weder die eine noch die andere Emotion ausdrücken konnte, war es ein reines Ratespiel. Stephen lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaute über die Schulter nach der Krankenschwester, aber die schien völlig gefesselt von ihrer Zeitschrift.
    »Mit der Signatur habe ich angefangen. Wie Sie sich denken können, war sie echt. Aber die forensische Analyse untersucht nicht bloß Muster, Mr. Bayber. Es geht nicht nur um die Schwünge der Handschrift oder die Frage, wo der Künstler den Pinsel angesetzt und wieder abgehoben hat.«
    Stephen spürte dieselbe Aufregung wie im Labor, wo er sich vor den riesigen weißen Wänden ganz klein vorgekommen war, während er die vergrößerten Pinselstriche auf steriler Oberfläche betrachtet hatte. Jetzt fühlte es sich an, als glitte er aus dem Zimmer, weg von dem hellen Licht, das durch die Fenster strömte, weg von der kalten, papierartigen Haut von Baybers Hand, weg von dem Geraschel der Zeitschrift, die mit klebrigen Fingern umgeblättert wurde. Er befand sich wieder in der pulsierenden Stille des Labors und stand vor Baybers gigantischer Signatur, betrachtete die geschwungenen Lettern, die wie ein riesiges Labyrinth an der Wand prangten.
    »Ich kann eine Signatur lesen, Mr. Bayber. Ich kann Stolz erkennen, Zögerlichkeit, Frust. Ich kann unterscheiden zwischen einer Signatur, die ein Künstler ohne Hintergedanken auf sein Bild kritzelt, weil er meint, es gebe nichts mehr hinzuzufügen, und einer solchen, die er mit akribischer Sorgfalt auf die Leinwand aufträgt, als könnte er sein Werk nicht freigeben.« Bildete er sich das ein, oder verengten sich Baybers Augen? Seine Hand jedenfalls bewegte sich keinen Millimeter, aber Stephen glaubte, einen beschleunigten Puls zu fühlen.
    »Ich habe mich mit Ihren bekannten Signaturen beschäf tigt. Es gibt keinen Zweifel daran, dass auch die Triptychontafel von Ihnen signiert wurde. Ich erkenne ähnlichen Druck, ein ähnliches

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