Das Gewicht des Himmels
Knochen. Abgesehen von minimalen Unterschieden, die man auf Alter oder Krankheit zurückführen könnte, sind die beiden Hände nahezu gleich.«
Stephen ging zu dem Klappstuhl neben dem Bett und setzte sich wieder hin. Er nahm ein Glas Wasser mit Strohhalm vom Nachttisch und hielt es Bayber hin. Mühsam nahm der Künstler einen Schluck und ließ sich erschöpft zurück in die Kissen fallen.
»Die Kritik hat Sie für Ihre kleinteilige Darstellung gelobt.« Stephen dachte an das erste Mal, als er eins von Baybers Bildern gesehen hatte. »Es ist wie bei einem Puzzle, nicht? Je länger man hinschaut, desto mehr entdeckt man. Und wenn man einmal etwas entdeckt hat, kann man es nicht mehr ungeschehen machen. Der Betrachter kann das Bild dann nicht mehr so auf sich wirken lassen wie beim ersten Mal. Der erste Eindruck ist unwiederbringlich fort.«
Im Zimmer war es still. Als Stephen lauschte und nichts hörte, begriff er, dass die Krankenschwester nicht mehr die Seiten ihrer Zeitschrift umblätterte, sondern zuhörte. Er lehnte sich zu Bayber hin und flüsterte ihm den Rest ins Ohr.
»Die Details haben mir alles verraten. Sie haben Alice eine Narbe am rechten Zeigefinger gegeben, mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Wie der Faden einer Spinnwebe, der von ihrem Fingernagel bis zum ersten Gelenk läuft. Ich habe sie erst nach einer Weile entdeckt, aber jetzt weiß ich, dass sie da ist, und jetzt kann ich meine Entdeckung nicht mehr ungeschehen machen. Nun schaue ich immer als Erstes nach der Narbe, so als könnte sie in der Zwischenzeit verschwunden sein. Oder vielleicht habe ich auch Angst, ich hätte sie mir nur eingebildet.« Stephen schwitzte. Wann war es im Zimmer denn so warm geworden? Von seiner Stirn lief ein Schweißtropfen hinab, und sein Hemd klebte ihm am Rücken. Er hielt die Luft an. Wenn Bayber doch nur sprechen könnte, um ihm zu verraten, was er wirklich von ihm wollte.
»Dieselbe Narbe ist auf der Hand der Unbekannten zu sehen. Was bedeutet, die Unbekannte auf der linken, fehlenden Tafel ist Alice oder eine ältere Version von Alice. Ich habe leider noch nicht genügend Zeit gehabt, um auch die andere Hälfte des Gemäldes so eingehend zu untersuchen, aber da sich dort ebenfalls übermalte Bereiche finden, liegt es nahe, dass eine ältere Version von Natalie die fehlende rechte Tafel ziert.«
Das Wort »fehlend« setzte eine Kettenreaktion in Stephens Gehirn in Gang. Die Antwort auf alles tanzte ihm vor der Nase herum, aber sobald er den Gedanken packen wollte, war er wie ein Blitz verschwunden. Er knirschte mit den Zähnen, um sich zu konzentrieren, und ignorierte das dumpfe Pochen in seinem Kiefer. Ein paar Mal bog er in die falsche Hirnwindung ab, nahm dann noch einen Umweg um flackernde Synapsen herum, aber dann war der Gedanke plötzlich da, eingesperrt in einer dunklen Sackgasse. Als er ihn endlich zu fassen bekam, wurde alles hell und klar – jetzt wusste er, was Bayber eigentlich von ihnen wollte. Das Licht im Zimmer stach Stephen in die Augen, und er spürte, dass ein Migräneanfall im Anzug war, der wie ein rollender Ball aus brüllend heißer Luft und zuckenden Blitzen auf ihn zukam. Er kniff die Augen zu, aber es war zu spät.
»Es geht Ihnen gar nicht um die anderen Tafeln des Triptychons«, flüsterte er Bayber zu und griff sich an den Kopf, um zu verhindern, dass sein Gehirn zu den Seiten herausquoll. »Es geht um die Schwestern, nicht wahr? Sie wollen, dass wir Alice und Natalie finden. Das war von Anfang an Ihr Anliegen.«
Stephen erinnerte sich nur noch schwach an die Taxifahrt nach Hause. Wie er es überhaupt geschafft hatte, ein Taxi anzuhalten, war ihm schleierhaft. Er zog die Jalousien zu und ließ sich aufs Bett fallen. Ihm war übel, und er zitterte, sein Oberarm schmerzte. Vorsichtig berührte er die Stelle – da würde bald ein blauer Fleck entstehen, zuerst tintenfarben, dann erbsengrün, dann schwefelgelb. Dort hatte ihn Baybers Krankenschwester gepackt und mit der Kraft einer berufsmäßigen Ringerin aus dem Zimmer geworfen. Als die Frau mitbekommen hatte, dass ihr Schützling angegangen wurde, hatte sie sich in ein Monster verwandelt.
Stephen rieb sich das Handgelenk, das Bayber fest umklammert hatte. Bei der Nennung der Mädchennamen war Leben in ihn gekommen, und dann war die ganze Kraft, die er noch in sich hatte, in seine Finger geflossen. Spucke tropfte aus seinem Mund, als er immer wieder denselben Laut zischte – sssah, sssah – und mit der freien Hand in der
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