Das Gewicht des Himmels
Unterbrechungsmuster, und der Abschwung am Y ist nahezu gleich. Und doch ist da ein Unterschied. Bei dieser Signatur war mehr Farbe auf dem Pinsel als sonst. Sie haben ganz langsam unterschrieben. Sie wollten nicht, dass das Werk fertig wird, habe ich recht?«
Er ließ Baybers Hand los und stand auf, um sich zu strecken. Als er zum Fußende des Bettes ging, folgte Bayber ihm mit den Augen und atmete schneller.
»Natürlich genügt eine Signatur nicht, um die Echtheit eines Werkes zu bestätigen. Das erste Mal, als ich das Bild sah, bemerkte ich eine deutliche Übermalung in zwei Bereichen. Vielleicht haben Sie ja eine alte, schon gebrauchte Leinwand benutzt. Das wäre nichts Ungewöhnliches. Aber meine Neugier war geweckt, und deswegen habe ich einige Untersuchungen durchgeführt: mit UV- und Infrarotstrahlen und mit sichtbarem Licht. Damit kann man tieferliegende Kohlezeichnungen aufspüren und die Materialien und Pigmente der unteren Schichten bestimmen. Danach habe ich klarer gesehen, war aber immer noch nicht ganz im Bilde, wenn Sie mir das Wortspiel verzeihen wollen. Hier kommt die Röntgenstrahlung ins Spiel. Das Labor verfügt über ein Computerradiografiesystem, mit dem man die Aufnahmen auf einem Laptop oder einem hochauflösenden Monitor darstellen kann. Es arbeitet nämlich mit wiederverwendbaren Phosphorfolien, das heißt, man braucht keinen Film mehr, was einerseits aufschlussreich, andererseits ziemlich mühsam ist.«
Bei dem Wort »mühsam« schlossen sich Baybers Augen, und Stephen redete nicht mehr weiter. Wie war es nur möglich, dass niemand außer ihm selbst einen Sinn für die Schönheit dieser Apparaturen hatte? Die bloße Nennung des Begriffs »Thermolumineszenz« hatte auf die meisten Leute denselben Effekt wie eine Schlaftablette, aber Stephen assoziierte mit diesem Wort Magie und Erhabenheit. Es war die Wissenschaft, die es den Fachleuten erlaubte, unter die Oberfläche eines Gemäldes zu sehen und seine Anfänge als Skizze zu würdigen, die Wissenschaft ermöglichte es, auf Eichentafeln gemalte Bilder zu datieren, indem man die Jahresringe des Holzes bis ins Jahr 5000 vor Christus zurückrechnete, und die Wissenschaft machte es auch möglich, das blaue Gewand der Jungfrau daraufhin zu untersuchen, ob es mit Ultramarin aus dem kostbaren Lapislazuli gemalt wurde oder mit dem erschwinglicheren Azurit.
»Ich sehe, Sie sind erschöpft, Mr. Bayber. Ich komme also zum Punkt. Mit einer Röntgenaufnahme kann ich erkennen, ob eine Leinwand winzige Risse hat, die repariert wurden. Oder ob die Trägerplatte Löcher hat oder die Grundierung gelitten hat. Ich kann sehen, ob die Kanten beschnitten sind oder Teile hinzugefügt wurden. Aber vor allem kann ich feststellen, was vorher dort war. Ich kann sehen, was Sie übermalt haben. Auf dem ersten Bild ruhte Alices Hand nicht auf dem Vogelkäfig, nicht wahr?«
Jetzt hatte er Baybers volle Aufmerksamkeit. Seine Atmung beschleunigte sich, und sein Mund bewegte sich, als versuche er, irgendein Wort hervorzubringen. Baybers Gesichtsfarbe war von kalkweiß in bleich übergegangen, und seine Hand zuckte unruhig.
»Ihr Arm streckte sich in Richtung der Bildkante – oder dahin, wo jetzt die Bildkante ist –, und sie hielt jemanden an der Hand. Die Finger dieser unbekannten Person sind in der Farbschicht darunter klar zu erkennen. Das war interessant. Wessen Hand hielt Alice ursprünglich? Aber dann fiel mir noch etwas auf. Alice trägt einen Ring am linken Zeigefinger – einen dünnen Ring mit einem kleinen Herz in der Mitte. Der größte Teil ihrer Hand wird von Ihrer Hand überdeckt, aber den Ring sieht man ganz klar. Ich habe daraufhin noch einige Aufnahmen mit verkürzter Expositionszeit gemacht, um ein möglichst scharfes Bild zu bekommen. Die Muskulatur und die Größe der Finger der verborgenen Person legen nahe, dass es sich um eine Frau handelt. Seltsamerweise trägt diese Frau ein ganz ähnliches Schmuckstück: einen dünnen Ring mit einem Herz in der Mitte. Aber sie trägt ihn am kleinen Finger, nicht am Zeigefinger. Ihre Gelenke sind leicht geschwollen, und die Winkel der Finger zueinander wirken seltsam – als wäre die Hand irgendwie missgebildet. Ich habe diese beiden Bereiche vergrößert – also die Hand der unbekannten Frau, die unter der obersten Farbschicht verborgen ist, und Alices Hand auf dem sichtbaren Bild –, und beide miteinander verglichen: die Form der Fingernägel, die relative Länge der verschiedenen Finger, die Lage der
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