Das Gewicht des Himmels
Luft herumfuchtelte. Stephen hatte panische Angst, er könnte Bayber so zugesetzt haben, dass er einen zweiten Schlaganfall bekam. Doch Bayber wurde nicht schwächer, sondern stärker; er heftete seine Augen auf Stephen, während er verzweifelt versuchte, sich irgendwie auszudrücken, entweder, um Stephens Worte zu bestätigen oder um sie zu zurückzuweisen.
Stephen rollte sich auf den Bauch und zog sich das Kissen über den Kopf. Im Dunkeln schwebten verschiedene Frauen vorbei: Chloe, Alice, Natalie und Lydia, die sich alle um seinen schmerzenden Kopf kümmerten, ihn mit ihren zarten Händen an der Wange streichelten und ihm über die Haare strichen. Dann vereinigten sich die Frauen in der Person von Mrs. Blankenship, die nicht an seinem Wohlergehen interessiert war, sondern das Gesicht verzog und enttäuscht den Kopf schüttelte. Mrs. Blankenship wiederum verwandelte sich in die Krankenschwester, die ihn so heftig schubste, dass er mit dem Kopf irgendwo anstieß und Sterne sah – aber halt, er war aus dem Bett gefallen, und das pulsierende Flackern in seinem Kopf war nichts anderes als die Leuchtreklame der Bar gegenüber. Er streckte den Arm aus, zog die Decke aus dem Bett und breitete sie, so gut es ging, über sich aus. Dort auf dem Boden, ein Ohr gegen den kalten Holzboden gepresst, verbrachte er die Nacht.
Am nächsten Vormittag konnte er endlich wieder die Augen öffnen, ohne dauernd blinzeln zu müssen, und er zog sich mühevoll wieder nach oben auf die Matratze. Sein Kopf schien eine einzige weiche Masse aus abflauenden Schmerzen zu sein, durchbohrt von vereinzelten Stichen hinter dem linken Auge. Er lehnte sich gegen einen Stapel Kissen und ließ die Ironie der Szene auf sich wirken: Er war praktisch Baybers Doppelgänger, wie er so dasaß und sich nicht bewegte, damit die Migräne nicht wieder ausbrach. Nachdem er eine Weile ganz stillgehalten hatte, wich das Fiepen in seinem Gehirn einem besser erträglichen weißen Rauschen. Seine überall verstreuten Gedanken kehrten langsam zu ihm zurück und lagerten sich wieder in seinem Kopf ein, wenn auch in anderen Hirnwindungen als zuvor.
Ohne den Kopf zu drehen, holte er Bleistift und Block aus der obersten Schublade seines Nachttischs. Das rhythmische Kritzeln mit dem Stift hatte etwas Beruhigendes, und bevor er sichs versah, hatte er eine cartoonartige Version des Bildes, das ihn umtrieb, auf das Papier gebannt: die Kessler-Schwestern auf dem Sofa mit einem lüsternen Bayber zwischen ihnen. Er blätterte die Seite um und zeichnete jetzt Hände und Unterarme: die Hand von Alice und die jener Frau, die er für die ältere Alice hielt; ihre Finger waren ineinander verschränkt. Dann fertigte er noch eine entsprechende Skizze von Natalie an.
Anhand der Winkel der Unterarme konnte er darauf schließen, wie die älteren Versionen der Schwestern auf ihren jeweiligen Bildern positioniert sein mussten. Er war sich sicher, dass diese Bilder so aussahen, dass er auf dem richtigen Weg war, aber letztlich konnte auch er bloß raten. Er sah einen vertikalen Ausschnitt der älteren Alice vor sich und einen weiteren von Natalie; die Muskulatur ihrer Arme legte nahe, dass sie die jüngeren Versionen von sich selbst in die Zukunft hineinzogen. Aber er konnte nicht sagen, ob Bayber einzelne Bereiche der fehlenden Tafeln ebenso übermalt hatte und, falls ja, warum. Hatte ihn das fertige Triptychon enttäuscht? Stephen dachte an den kranken Bayber im Bett, an die erstaunliche Festigkeit seines Griffs. Nein, Enttäuschung über das Bild schien kein wahrscheinliches Motiv.
Stephen setzte sich auf und betrachtete die Wände seines Schlafzimmers, die bedeckt waren mit Reproduktionen von Baybers bekannten Werken und mit Fotografien, die er von dem Gemälde gemacht hatte, Nahaufnahmen und Totalen. Er konnte leicht sehen, dass Bayber kein anderes Werk geschaffen hatte, das es künstlerisch mit den Kessler-Schwestern aufnehmen konnte. Als er sich wieder hinlegte, zogen tausend Gesichter an ihm vorbei, aber er hatte nur Augen für die Mädchen auf dem Sofa und für Bayber. Das Trio umkreiste ihn aus allen möglichen Blickwinkeln, und dann war er plötzlich selbst in dem Bild, zusammen mit den drei Figuren. Die leichte Brise, die sich in den Vorhängen fing, strich ihm über die Haut, und der warme grüne Duft des Sommers stieg ihm in die Nase. Was davon war real?
Er stand aus dem Bett auf, nahm den Rucksack, den er in eine Ecke geworfen hatte, und suchte darin nach seiner Kamera.
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