Das Gewicht des Himmels
seine Faust gleiten lassen. Beim Aufwachen musste er die Frauen aus seinem Kopf vertreiben, ihren Duft aus seiner Nase, ihren Geschmack aus seinem Mund verbannen.
Er loggte sich in das Intelius-Konto von Murchison & Dunne ein. Vielleicht konnte der Recherchedienst ihm weitere Informationen verschaffen. Aber er fand nichts über die beiden Frauen nach dem Jahr 1972. Die Suche nach Bildern verlief etwas erfolgreicher. Er entdeckte ein altes Zeitungsfoto, auf dem einige junge Leute zu sehen waren, die miteinander anstießen. Die Bildunterschrift lautete: »College-Absolventen aus New Fairfield feiern den 4. Juli«, und das Foto war datiert auf den 5. Juli 1969. Da war Natalie, in der Mitte und ganz vorne, die Hände im Schoß gefaltet, während alle anderen wie eine verpixelte, schwarz-weiße Masse wirkten. Hinter Natalie stand ein schwerfälliger junger Mann, dessen Hände mit ihren Schultern verschmolzen. Stephen vergrößerte die Unterschrift, um den Namen zu entziffern: George Reston junior.
George Reston junior hatte offenbar keine Probleme damit, Datenspuren zu hinterlassen. Als Stephen die Suchanfrage leicht abwandelte, bekam er eine Fülle an Informationen frei Haus geliefert, ein digitales Porträt von George junior, das beinahe schmerzhaft detailreich war. Sein Vater hatte wegen finanzieller Mauscheleien für kurze Zeit im Gefängnis gesessen, seine Eltern hatten großzü gige Spenden an diverse künstlerische Vereinigungen geleistet, und die Familie besaß ein Ferienhaus am Seneca Lake. Stephen betrachtete die Adresse und stutzte. So einfach konnte es doch nicht sein! Eine ganz einfache Verbindung, und er hatte sie nicht gesehen. Freundschaft! Warum hatte er nicht an das Nachbarhaus der Baybers gedacht? Das Haus, das die Kesslers jeden August gemietet hatten. Das Haus, das den Restons gehörte. Dass auch Finch die Verbindung übersehen hatte, entmutigte Stephen. Vielleicht war es ja das, was Lydia als Gemeinsamkeit bei ihnen ausgemacht hatte: eine Stumpfheit im Hinblick auf Freundschaften.
Jetzt, da er die Landkarte gefunden hatte, lag der Weg deutlich vor ihm. Die Edells schickten ihre monatlichen Schecks an Steele & Greene. Als Stephen Steele & Greene zusammen mit George Reston abfragte, stieß er auf einige Treffer. Ein kurzer Zeitungsartikel von 1972, in dem vermeldet wurde, dass Constellation Investments eine neue Tochtergesellschaft gründeten: Steele & Greene, eine Immobilienverwaltung. Zum Geschäftsführer ernannt hatte man George Reston junior, achtundzwanzig Jahre alt.
Stephen fand ein körniges Schwarz-Weiß-Foto von George Junior, auf dem er genervt und gelangweilt wirkte. Über seinem nichtssagenden, dicklichen Gesicht ringelten sich seine dichten Locken. Er hätte einer der namenlosen Männer sein können, die Stephen jeden Tag zu Hunderten auf den Straßen des Bankenviertels sah: Männer mit gestärkten Hemdkragen, gesunder Wohlstandsfarbe auf den Wangen und entschlossenen Schritten, unterwegs, um die Geschäfte der Welt zu regeln. Du könntest wenigstens lächeln, du Schnösel, dachte Stephen mit einem Hauch von Neid. Aber der verflüchtigte sich schnell, als er eine andere Seite anklickte: eine Liste der Manager von Constellation Invest ments, aus der hervorging, dass im Jahre 1972 ein George Reston senior im Vorstand von Constellation saß, nachdem er zuvor der Geschäftsführer gewesen war. Hätte Stephens eigener Vater nicht dasselbe für ihn getan? Hatte er das nicht sogar versucht?
Es gab keine Webseite von Steele & Greene, nicht mal eine Telefonnummer. Als er die Adresse recherchierte, die Winslow Edell ihm gegeben hatte, stieß er auf ein Post-Servicezentrum in Hartford. Wenn Steele & Greene überhaupt im physischen Sinne existierten, hatten sie sich gut versteckt. Danach fand Stephen heraus, dass das Grundstück der Kesslers in der Bebauungssatzung der Gemeinde nur für ein Einfamilienhaus freigegeben war. Es war auch nicht besonders groß, daher war es höchst unwahrscheinlich, dass das Land verkauft und an mehrere Eigentümer unterverteilt worden war. Warum gab sich eine Immobilienverwaltung mit einem Einfamilienhaus in einem kleinen Ort in Connecticut ab? Er betrachtete noch einmal das Bild der Studenten am Nationalfeiertag. Georges fester Griff um Natalies Schulter wirkte, als wollte er sie in ihren Stuhl drücken. Was man im Namen der Freundschaft so alles tut , dachte Stephen. Oder im Namen der Liebe .
Jetzt konnte er bloß noch das Postzentrum in Hartford unter die Lupe
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