Das Gewicht des Himmels
Er sah sich die Bilder an, die er bei den Edells aufgenommen hatte. Ja, er hatte die meisten Einzelheiten richtig im Kopf gehabt. Die Buntstiftzeichnung konnte man ganz klar an den Anfang von Baybers Karriere setzen. Das Datum 1963 stimmte; damals hatte der Künstler noch nicht ganz zu seinem Stil gefunden. Da waren sie, die Kesslers, und saßen unbeholfen auf ebenjenem Sofa; die Eheleute bildeten das Zentrum. Alice mit ihrer wilden blonden Mähne befand sich zur Linken ihres Vaters, Natalie saß zur Rechten der Mutter, die Augen niedergeschlagen. Der Hintergrund war kaum ausgearbeitet, aber Stephen erkannte einige Gegenstände, die er zusammen mit Finch im Ferienhaus gesehen hatte: die Standuhr, den Stapel Atlanten, die Teppiche.
Und dann war da noch der Käfig. Stephen hatte drei Bilder davon im Kopf: die Darstellungen der Doughty-Studie und des Ölgemäldes – und die reale Version, der Käfig in seiner abgegriffenen physischen Schönheit, wie er auf dem Nachttisch im Sommerhaus stand. Stephen betrachtete die Fotos an den Wänden und an der Decke seines Zimmers. Nur auf der Tafel des Triptychons stand die Käfigtür leicht offen, fast so, als wäre etwas Kostbares fortgeflogen.
Stephen stolperte in die Küche und machte sich eine Schüssel Instant-Haferbrei. Er schüttete etwas angesäuerte Milch über die staubfarbenen Flocken und löffelte alles mit einer Schöpfkelle, dem einzigen sauberen Besteckteil, in sich hinein. Was übersah er bloß? Er blätterte den Block um und notierte seine Erkenntnisse in seiner gewohnten Kurzschrift. Wohin waren die Kessler-Schwestern verschwunden, und warum waren sie so überstürzt aufgebro chen? Warum war das Haus fünfunddreißig Jahre lang nicht verkauft worden? Und da war auch noch der Vogel. Finch glaubte zwar, die Figur spiele keine Rolle bei der Suche nach den Bildern, aber für Stephen war die Entdeckung des leeren Käfigs ein entscheidender Moment gewesen. Jedes Detail ist wichtig, hatte sein Vater oft gesagt, wenn er Stephen zeigte, was ein Künstler ausdrücken wollte. Der Vogel also. Er kritzelte an seinen eigenen Buchstaben herum, zog ihre Konturen mit Tinte nach.
Nachdem er sein wenig ansprechendes Frühstück beendet hatte, stellte er die Schüssel und den Löffel in die Spüle zu dem schmutzigen Geschirr der vergangenen Woche und ging zurück ins Schlafzimmer, um seinen Laptop zu holen. Dann setzte er sich an den Küchentisch, den er zunächst mit einem Schwung seines Arms von Papieren und Krümeln säuberte.
Er konzentrierte sich auf einen kleinen Fleck an der Wand und überdachte das Problem aus einem anderen Blickwinkel. Es drehte sich alles um die Mädchen. Jeder Aspekt konnte auf sie zurückgeführt werden. Er nahm sich die Ergebnisse seiner Recherchen vom Beginn des Auftrags vor. Damals hatte er beim zentralen Sterberegister nachgefragt und keine Treffer erzielt. Er jagte also keinen Gespenstern hinterher. Und die Lebenden hinterließen Spuren, verstreuten Daten über sich selbst wie winzige Brotkrumen, ob sie wollten oder nicht. Er musste nur den richtigen Ansatzpunkt finden.
Bei seiner Suche nach Natalie Kessler hatte er mehr als nur grundlegende Informationen gefunden. Sie hatte 1965 ihren Abschluss an einer privaten Mädchenschule namens Walker Academy gemacht und vier Jahre später ein kleines geisteswissenschaftliches College absolviert. Auf dem Klas senfoto brauchte er keinen Blick auf die Namen am unteren Rand zu werfen. Zwischen den breitschultrigen, ernsten jungen Frauen stach ein Gesicht heraus: ein durchdringender Blick, gefrorene Anmut.
Er legte das Schwarz-Weiß-Foto zu den anderen Bildern von ihr, die er in seinem Kopf abgespeichert hatte, und bemerkte, dass er dabei war, sich an ihre Schönheit zu gewöhnen. Ihre Unnahbarkeit sorgte für einen sicheren Abstand zwischen ihnen – nur in seinen Träumen nicht. Dort waren Natalie und Chloe inzwischen austauschbar geworden. Mit Chloe lag er im Bett, Chloes schlanker weißer Körper streckte sich neben ihm aus, und ihre Kurven wanden sich wie ein Fluss, der sich seinen Weg durch die weiche Erde bahnte. Doch irgendwann verwandelte sich ihre Haut in Gold, ihr Haar wurde heller und länger und ringelte sich an den Spitzen, ihre Finger gruben sich fest in seine Schulter und verschmolzen mit ihm. Als er plötzlich merkte, dass sie die Falsche war, schämte er sich für das, was er ihr angetan hatte, dieser Frau, die er niemals kennengelernt hatte. Er hatte sie niedergedrückt und ihr Haar durch
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