Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
geringer als ein Tenendra-Mädchen?«
»Warum reden wir denn jetzt über mich?«, fragte Sutter. »Du bist derjenige, der wild in der Gegend herumküsst. Und wenn wir schon dabei sind: Für einen, der den Rest seines Lebens im abgelegenen Helligtal verbringen wollte, steckst du deine Nase neuerdings sehr gern in die Privatangelegenheiten anderer Leute.«
»So wie jemand, der sich einem hochrangigen Sedagin breitbeinig in den Weg stellt?«
»Ich habe nur die Ehre deiner Schwester verteidigt«, sagte Sutter und machte im Gehen eine Verbeugung.
Sie lachten zusammen und marschierten weiter im Schatten des Blätterdachs.
Tahn fand einen bequemen Rhythmus. »Weißt du, was wir vergessen haben?«
»Ja, eine Wegbeschreibung«, entgegnete Sutter.
»Die Schlucht verläuft hier nach Osten.« Tahn deutete voraus. »Aber sie biegt nach Norden ab, ehe sie die Berge dort erreicht.« Er wies auf einen Bergrücken, der zwischen den Bäumen hindurch zu sehen war. »Ich finde, wir sollten uns weiter von der Straße fernhalten. Du kannst uns doch Wurzeln …«
Sutter legte Tahn eine Hand auf den Arm, und sein Lächeln erlosch. Ernst sah er Tahn ins Gesicht. »Danke.«
»Wofür?«
»Versteh mich nicht falsch. Der Rotz einer Bestie aus dem Born ist nicht gerade lecker. Das Ding war gruselig.« Er machte eine kurze Pause. »Aber du bist in diesen Käfig gegangen, obwohl es dich zum Abendessen hätte verspeisen können. Du wusstest genauso wenig wie das Mädchen, das dich da reingelassen hat, was das Biest tun würde.«
Tahn versuchte abzuwehren: »Das war nichts weiter. Du hättest das Gleiche …«
»Ja, hätte ich«, unterbrach ihn Sutter. »Aber … na ja, ich denke oft über die Leute nach, die etwas für mich riskiert haben. Das sind nämlich sehr wenige.«
Tahn verstand, dass Sutter vor allem an den Mann und die Frau dachte, die ihn wie ihren eigenen Sohn großgezogen hatten, und an seine leiblichen Eltern, die ihn weggegeben hatten, ehe er alt genug gewesen war, sie überhaupt zu kennen. Im Nachhinein hatte Tahn den Eindruck, dass sein Freund zu dem jungen Mann geworden war, den er kannte, weil er versuchte, sich mit den Entscheidungen abzufinden, die diese Menschen getroffen hatten. Vielleicht kam sein Freund sich überflüssig und unerwünscht vor und musste dieses Gefühl überwinden. Auf einmal hatten manche der Scherze, die sie ihr Leben lang miteinander gemacht hatten, einen finsteren Beigeschmack.
»Tja«, sagte Tahn, »ich fürchte, du wirst noch Gelegenheit bekommen, den Gefallen zu erwidern. Also spar dir deine Dankbarkeit noch ein bisschen auf.«
Tahn wollte weiter nach Osten gehen, aber Sutter hielt ihn zurück. »Das ist es nicht allein. Ich weiß nicht, warum der Sheson und die Fern dich aus dem Helligtal geholt haben. Ich glaube, du weißt es auch nicht. Aber der Grund muss viel wichtiger sein, als wir bisher angenommen haben. Ich meine, die sind nicht wegen eines Rübenbauern ins Helligtal gekommen. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Tahn starrte ihn an. Er verstand sehr wohl. Und vielleicht hatte Sutter recht. Dennoch erwiderte er Sutters Blick trotzig. »Wenn ich vor der Entscheidung stehe, einem Freund zu helfen oder nicht, werde ich mich nach nichts anderem richten, Sutter. Nie wieder. Was auch immer der Sheson von mir verlangen mag, muss damit in Einklang zu bringen sein. Denn sonst hat er den falschen Melura. Findest du das denn nicht richtig?«
Sutter überlegte, dann nickte er langsam. »Doch. Aber diese ganze Sache ist irgendwie verkehrt herum, Tahn. Ich meine, man könnte etwas tun, das einem richtig vorkommt, und es ist dann trotzdem falsch. Vergiss das nicht.«
Tahn nickte. »Vielleicht sind wir auch nur ein Ablenkungsmanöver in einem größeren, noch komplizierteren Plan.« Die dunkle, verhüllte Gestalt, die einen Elchbullen mit Regen erschlug, stand ihm plötzlich vor Augen. »Aber nur, damit du Bescheid weißt, ich bin gar nicht so sicher, dass es bei alledem nur um mich geht. Wir wissen nicht viel, also könnte es ebenso gut um dich gehen.« Scherzhaft stieß er Sutter den Zeigefinger an die Brust.
Sie lachten, ließen diesen Augenblick hinter sich und folgten weiter der Schlucht in nordöstlicher Richtung.
Den ganzen Tag lang waren sie hauptsächlich zu Fuß unterwegs. Gegen Sonnenuntergang stiegen sie von einer kleinen Anhöhe herab. Das ferne Rauschen eines Flusses summte durch den Wald, ein beruhigendes, vertrautes Geräusch. Die Schlucht führte zu einem Fluss
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