Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
zum Ende des Zelts. Sutter schlüpfte sofort nach draußen, doch Tahn schaute noch einmal zurück und sah, wie der Lul’Masi den Schlüssel aus Alisandras Hand fischte und begann, die anderen Käfige aufzuschließen. Der Inveterae hob den Kopf und sah Tahn in die Augen. Sie wechselten einen Blick voller Dankbarkeit, der in Tahn Fragen über das Wesen der Inveterae weckte.
Dann zog Sutter Tahn durch die Zeltklappe, und sie rannten zurück in den Ort.
Fast die ganze Nacht lang ritten sie von Quim aus nach Norden. Sie unterhielten sich nicht, sondern beeilten sich, möglichst viele Meilen zwischen sich und die Tenendra zu bringen. In den letzten Nachtstunden wandte Tahn den Blick nach Osten und dachte an den nahenden Morgen, an einen neuen Tag voller Leben. Er stellte sich vor, wie die aufgehende Sonne eine friedlichere Welt erhellte, in der Wendra über der Pfanne mit dem Morgenspeck summte. Der Gedanke an seine Schwester beendete jäh seine gewohnte frühmorgendliche Träumerei. Himmel, wie sehr er sie vermisste. Es war wie ein Loch in seinem Inneren. Er konnte sich nicht erinnern, wann er je im Leben ohne sie gewesen wäre.
Und wieder musste er an den Augenblick denken, als er gezögert hatte, den Pfeil auf den Bar’dyn abzuschießen, der sich über seine Schwester im Kindbett beugte. Es tut mir so leid, Wendra. Verzeih mir. Geht es dir gut? Dein Kind … das ist nicht deine Schuld.
Diese verflixten Worte – Den Bogen spannen meine Arme … Tahn hatte schon vor langer Zeit gelernt, mit diesem rituellen Sprüchlein zu leben. Es schoss ihm so schnell durch den Kopf, dass es seine Künste im Bogenschießen nicht störte. Doch der rätselhafte Ursprung dieser Worte und der Kummer, den er Wendra nun damit bereitet hatte, quälten ihn einmal mehr. Würde er je begreifen, was ihn dazu zwang, diesen Spruch aufzusagen?
Nein, es hatte keinerlei Grund dafür gegeben, einen Stilletreuen mit dem Kind seiner Schwester in die Nacht entkommen zu lassen. Das konnte er sich selbst nicht verzeihen und auch nicht erklären.
Er konnte sich nur vom Wind und Joles Hufschlag in weniger verstörende Gedanken einlullen lassen und hoffen, dass er sie und die anderen in Decalam wiederfinden würde.
Eine Weile später war es taghell.
Sutter zügelte sein Pferd. »Wir müssen von dieser Straße weg.« Tahns Freund lallte nicht mehr und schien beinahe wieder der Alte zu sein.
Tahn hielt neben ihm und blickte sich hastig um. Er sah keinen Hinweis auf Verfolger, nickte aber trotzdem. Stilletreue spürten ihnen nach, jeglichem Zeltvolk sollten sie unbedingt aus dem Weg gehen – da war es nur klug, die Straße zu verlassen. Er hatte seinen verletzten Fuß ganz vergessen und zuckte vor Schmerz zusammen, als er aus dem Sattel sprang.
»Gib schön auf deine zarten Zehen acht«, scherzte Sutter und saß ab. »Ich habe gehört, die wollen bald ein Tänzchen mit einer flinken Fern wagen. Da sollten sie besser heil bleiben.«
Tahn grinste trotz der Schmerzen. »Vielleicht sollte ich Trense und Zaumzeug einmal dir anlegen und dich ein Stückchen reiten. Ich könnte etwas Ruhe und Frieden gebrauchen und die Pferde sicher auch.«
Er humpelte zwischen die dichten Bäume am östlichen Straßenrand und führte die Pferde durch den Wald, so schnell er konnte. So früh am Morgen hielten sich noch blaue Schatten am Waldboden, und es roch nach Tau auf trockenem Laub und den kleinen Felsen.
Als sie die Straße weit hinter sich gelassen hatten und der Wald lichter wurde, holte Sutter zu ihm auf. »Erklär mir mal eines. Wie kommt es, dass einem Melura, der sich Stiefel und Schultern mit Moschus einschmiert, um bei der Jagd das Wild anzuziehen, von so vielen Frauen ein Lächeln geschenkt wird?« Sutter grinste vielsagend.
»Dieser bestialische Geruch hat mir auch andere Freunde verschafft.« Tahn erwiderte das Lächeln.
»Du sprichst hoffentlich nicht von mir«, sagte Sutter. »Ich will nur wissen, warum ausgerechnet du einen Kuss von Alisandra bekommen hast.«
»Diese Frauen, auf die du anspielst, sind alle sehr geschickt mit dem Dolch. Wäre das nicht ein wenig unklug von mir?« Tahn runzelte in gespieltem Ernst die Stirn.
»Du hast ziemlich klug ausgesehen, als Alisandra dich geküsst hat. Und spiel mir nichts vor, was die Fern angeht. Deine Absichten könnten dir ebenso gut auf die Stirn geschrieben stehen.«
»Und was ist mit dir, Rübenbauer?«, entgegnete Tahn. »Du hast mir deine Gefühle für meine Schwester gestanden. Schätzt du sie etwa
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