Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
dass Wendra ihm etwas verheimlichte. Früher oder später würde er sie zwingen, ihm zu verraten, weshalb ein Mädchen, das anscheinend nichts Kostbares besaß, von Bar’dyn gejagt wurde. Und weshalb ein solches Mädchen schutzlos über Land flüchtete und versuchte, einen kleinen Jungen zu retten.
Jastail starrte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen an, als studiere er jede Pore in ihrem Gesicht. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, fragte er: »Ist der Staub heute schon aufgestiegen?«
»Noch nicht«, antwortete Himney. »Du wirst schon merken, wann es so weit ist. Dann füllen sich die Tische mit Männern, die noch einen Becher trinken wollen, ehe sie an die Planken treten.«
Wendra sah Jastail und den ernst dreinblickenden Wirt an und konnte sich nicht länger zügeln, sie musste einfach fragen. »Was ist der Staub?«
Himneys Blick schoss zu ihr herüber, und er zog den Kopf zurück wie eine Schildkröte, die sich bedroht fühlt. Jastail hob die Brauen, und in seinen Augen schien es gefährlich zu brodeln. Wendra begegnete standhaft seinem glühenden Blick. Er mochte diese Schuld nie begleichen, aber er verdankte ihr sein Leben. Sie würde nicht länger schweigen. Was er auch mit ihr vorhaben mochte, am Spieltisch hatte er ja bereits bewiesen, wofür er sie erachtete. Er redete immer wieder von Penit, um sie weiter mit sich fortzulocken und sie an der Flucht zu hindern. Diese Taktik zu ändern würde ihm nichts nützen, ob Penit noch lebte oder nicht. Also würde Wendra nicht mehr stillschweigen. Ein Gefühl in ihr wurde von Stunde zu Stunde stärker und verlangte nach einem Auslass.
»Bring sie zum Schweigen«, verlangte Himney energisch. »Was hat sie so dummes Zeug zu reden?«
»Beruhige dich, Himney«, erwiderte Jastail und warf dem Wirt einen drohenden Blick zu. Dann wandte er sich wieder an Wendra. »Meine Teuerste, auch das werdet Ihr verstehen, wenn Ihr den Jungen wiederseht. Ich muss Euch bitten …«
»Bittet mich nicht!«, rief Wendra aus und sprang auf. »Ihr werdet mich nicht mehr so behandeln! Ich habe Euer Spielchen mitgespielt und Euch begleitet, um Penit zu Hilfe zu kommen. Ich habe in Scham und Schande als Pfand für Euer Glücksspiel gedient.« Sie funkelte ihn drohend an. »Und ich habe Euch vor den Bar’dyn gerettet, weil ich dachte, Ihr wüsstet, wo Penit ist. Bringt mich endlich zu ihm! Wenn er hier ist, dann auf der Stelle! Wenn nicht, reiten wir weiter. Aber Ihr habt keine Ahnung, welches Risiko Ihr eingeht, indem Ihr mich festhaltet und mit meinem Leben spielt!«
Jastail betrachtete sie regungslos. Sein apathischer Ausdruck, der so tief in seinem Gesicht verwurzelt war, veränderte sich nicht. Doch irgendetwas anderes kam an ihm zum Vorschein, wenngleich Wendra es nicht benennen konnte. Im gleichen Moment, als sie das bemerkte, stieg auch in ihr etwas empor. Es begann mit Wut, nahm jedoch bald eine neue Form an – sie begann, das Gefühl im Geiste als Lied zu hören. Allein beim Gedanken daran kribbelte ihre Haut vor Vorfreude. Das verlieh ihr Mut. Trotzig baute sie sich dicht vor Jastail auf.
Der Glücksspieler erwiderte ihren Blick scheinbar unbekümmert. »Da mögt Ihr recht haben, Teuerste«, begann er. »Aber habt Ihr noch nicht begriffen, dass Risiko mir im Leben alles bedeutet? Wenn hinter Euren Worten mehr steckt als eine verzweifelte Drohung, dann habe ich jetzt noch weniger Anlass, mich anständig zu verhalten, als vorher. Und außerdem« – er beugte sich auf seinem Stuhl vor, so dass er Wendra von unten direkt ins Gesicht sah – »könntet Ihr längst tot sein, ehe sich irgendein Risiko ergibt.« Er lächelte gelassen. Dieses Lächeln war der am wenigsten gekünstelte Ausdruck, den Wendra je bei ihm gesehen hatte. »Haltet den Mund, und Ihr werdet Eure Antworten bald bekommen.«
Wendras Lied bäumte sich in ihr auf, und sie schauderte vor seiner Heftigkeit. Sie hielt sich an der Tischkante fest, um ein wenig Halt zu finden, und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. »Hättet Ihr ein nasses Tuch für mich?«, fragte sie Himney.
Himney warf Jastail einen Blick zu. Auf dessen Nicken hin stand der Wirt auf und eilte ans andere Ende des Raums, wo er einen Wischlappen in einen Eimer an der Wand tauchte. Im Gehen wrang er den Lumpen aus und hielt ihn Wendra hin. Obwohl der Lappen nach tausend aufgewischten Flecken stank, nahm sie ihn dankbar entgegen, lehnte sich zurück und breitete das Tuch über ihr Gesicht. Allmählich blendete sie die Unterhaltung der
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