Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
und er hoffte, dass sie ihn damit durchkommen lassen würden – immerhin kannten sie sich mit solchen Dingen nicht aus. Und trotz all der Scher ze auf seine Kosten hatte Tahn einmal zu ihm gesagt, dass er Braethen für den moralischsten, zuverlässigsten Menschen in ganz Helligtal halte, abgesehen vielleicht von Braethens Vater, und zwar gerade deshalb, weil er nach dem Eid der Sodalen lebte. Das war ein schöner Tag für ihn gewesen.
Tahn brach das Schweigen. »Ich glaube, Sutter will damit im Grunde sagen, dass er neidisch ist, weil Rüben ausbuddeln ein so wichtiger Beruf ist.«
»Ja, genau«, stimmte Sutter sarkastisch zu.
»Die Vergangenheit und die verschiedenen Zeitalter der Menschheit zeigen uns, was kommen wird«, erklärte Braethen und zog einen der Wälzer zu sich heran. »Sie helfen uns, heute so zu handeln, damit wir morgen nicht mit all den Fehlern fertigwerden müssen, die schon einmal gemacht wurden. Dieses Wissen hilft einem Sodalen, einem Sheson zu dienen, und beide zusammen arbeiten im Interesse der menschlichen Gemeinschaft.«
»Du hörst dich an wie ein Buch«, sagte Sutter.
Braethen ignorierte ihn und schlug zielsicher eine bestimmte Seite auf. »Das ist unsere Aufgabe.«
»Und jetzt«, brummte Sutter, »kommt das Credo.«
»Wandel ist unvermeidlich und notwendig, doch die Traditionen unserer Väter müssen bewahrt werden. Jemand muss achtgeben. Jemand muss sich erinnern. Und jemand muss …« Er verstummte, denn er empfand wieder genau so wie damals, als er diese Worte zum ersten Mal gelesen hatte: Er kam sich sehr klein vor und war gleichzeitig beseelt von dem Wunsch, den Eid selbst abzulegen.
»Du klingst wie der Vorleser, wenn du von solchen Dingen sprichst«, bemerkte Tahn.
Sutter wedelte mit der Hand vor Braethens Gesicht herum. »Ja, ist irgendwie unheimlich.«
Braethen schüttelte diese Gedanken buchstäblich ab. »Die Unwetter haben noch nie so lange angedauert. Ich glaube, das hat etwas zu bedeuten … Regen, Wasser … Erneuerung … Wandel. Vielleicht Krieg.«
Braethen lief bei seinen eigenen Worten ein Schauer über den Rücken, und Sutter schloss mit einem hörbaren Schnappen den Mund. Der Möchtegern-Sodale blickte auf, und die Atmosphäre in dem kleinen Raum war plötzlich sehr ernst. »Ich will aufrichtig zu euch sein. Ich stehe Ogea näher als jeder andere hier, und trotzdem hoffe ich, dass er verstorben ist und wir nur noch nichts davon erfahren haben. Denn wenn das nicht der Fall ist … habe ich eine Vermutung, die mir gar nicht gefällt.«
»Was, hast du in deinen Büchern von so etwas gelesen?«, wollte Sutter wissen.
Doch ehe Braethen antworten konnte, war draußen auf der Straße langsamer Hufschlag zu hören. Einsam hallte das Echo des Reiters durch die matschigen Straßen von Helligtal, und ein weiterer Schauer überlief ihn. Die drei gingen zum Fenster und schauten hinaus. Das Glas beschlug vor seinem Gesicht, und er hielt unwillkürlich den Atem an. Draußen stöhnte der Wind um den Giebel und seufzte in den Bäumen.
Der Reiter passierte das Haus so langsam, dass es keinen Zweifel geben konnte: Der Vorleser war gekommen. Ogea saß zusammengesunken im Sattel, seine Stirn ruhte auf dem Hals seines Maultiers. Einen Augenblick später war er hinter den Bäumen vor Braethens Haus verschwunden, weiter die Straße entlang.
»Gehen wir«, sagte Braethen. Er eilte nach hinten und sagte seinem Vater Bescheid, dass der Vorleser eingetroffen war. Dann hüllte er sich in seinen Umhang und rannte zur Tür hinaus, dicht gefolgt von Tahn und Sutter.
Sie brauchten nicht weit zu laufen, um den Vorleser einzuholen. Ogeas Maultier trottete langsam und gleichmäßig dahin.
Wie es der Brauch war, ritt der Vorleser die Straßen Helligtals ab, ohne ein Wort zu sagen. Sein Erscheinen war Ankündigung genug. Dorfbewohner und Nordsonn-Gäste strömten auf die Straße, wie sie es immer taten. Heute zogen sie ihre Mäntel und Umhänge fester um sich, ehe sie ihm folgten. Sonst herrschte bei Ogeas Einzug stets ehrfürchtige Stille, doch diesmal spürte Braethen leichten Unmut im Schweigen der Menge.
Der Umhang des Vorlesers war schmutzig und zerrissen, und er hatte schwarz umrandete Löcher, als habe er zu nahe am Feuer gelegen. Die vielen Dutzend Stiefel auf der schlam migen Straße machten leise schmatzende Geräusche im Matsch.
Der Wind heulte weiter durch den frühen Abend, und irgendwo am Huber protestierte ein Wasserfalke gegen das abscheuliche Wetter, das ihn an der
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