Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Jagd hinderte. Sein Ruf klang wie ein leiser, aber unheilverkündender Pfiff.
Schließlich näherte sich die Prozession der Feldstein-Taverne. Vor dem Wirtshaus hatten sich bereits zahlreiche Menschen versammelt, um den Vorleser willkommen zu heißen. Die Menge teilte sich, als Ogeas Muli schnurstracks weitertrottete. Hinter ihm strömten die Menschen wieder zusammen. An der Ecke des Wirtshauses hielt der Vorleser an. Er glitt aus seinem Sattel und stützte sich am Sattelknauf ab. Wie immer hingen seine großen ledernen Satteltaschen über den Flanken seines Mulis herab. Ogea griff in eine Tasche und holte eine Schriftrolle mit einem Siegel aus Wachs hervor.
»All meine Himmel. Er hat noch nie von dem alten Pergament vorgelesen«, sagte Braethen ehrfurchtsvoll. »Sonst nimmt er immer ein Buch mit hinauf.«
Humpelnd schleppte sich der Vorleser zu der Leiter, die am Gasthaus lehnte. Mit beiden Armen barg er die Schriftrolle an seiner Brust. Ein starker Windstoß fuhr durch die Menge, Hände hoben sich und hielten Kopfbedeckungen fest. Ogea wurde die Kapuze vom Kopf geweht. Ein leises Stöhnen, ganz ähnlich dem Wind, entschlüpfte jenen, die dem Vorleser am nächsten standen: Ogeas Wangen und Kinn waren mit getrocknetem Blut verklebt.
Als der alte Mann die Leiter schon fast erreicht hatte, fiel er auf ein Knie nieder. Doch er stand allein wieder auf und blick te langsam zu der hohen Leiter empor. Nach einer kurzen Atempause steckte er die Schriftrolle in seinen Umhang und ergriff die ersten Sprossen.
Er begann zu klettern.
Die Feldstein-Taverne war Braethen noch nie so hoch vorgekommen. Stückchen für Stückchen erklomm Ogea die Leiter und ächzte bei jeder Sprosse. Das Rasseln in seiner Lunge war trotz des rauschenden Windes deutlich zu hören. Als er zwei Drittel des Aufstiegs geschafft hatte, rutschte er mit einem Fuß ab und verlor beinahe den Halt. Eine knochige Hand klammerte sich fest, und er zog sich rasch wieder an die Leiter, die Wange an eine Sprosse gepresst.
Er begann erneut zu klettern. Diesmal stieg er entschlossen an dem Balkon vorbei und langsam weiter bis aufs Dach, wo er sich umdrehte und den Blick über die Menschen auf der Straße unter ihm schweifen ließ. Hoch oben auf dem Wirtshaus peitschte ihm der Wind das weiße Haar und den Bart um den Kopf, und sein rostbrauner Umhang flatterte vor der grauen Wolkendecke. Als er wieder zu Atem gekommen war, zog er die Schriftrolle aus dem Umhang und strich mit einer Hand nachdenklich über das zusammengerollte Pergament. Dann blickte er erneut auf die Menge hinab und begann zu sprechen.
»Nordsonn ist vorüber, und ein weiterer Kreislauf hat begonnen, nach dem wir die Zeit unseres Lebens messen. Im Westen sinkt die Sonne, verborgen hinter den Wolken, unter deren schwerer Decke wir dicht an unsere Feuer rücken und einander Mut zusprechen.« Der Vorleser seufzte schwer. »Die Zeit dafür ist nun vorbei.« Ogea trat dichter an den Rand des Daches und sprach mit lebhafterer, lauter Stimme weiter. »Vor unseren Feuern, vor der Sonne, versammelten sich die Großen Väter im Tabernakel des Himmels. Sie hielten ihren Rat der Schöpfung, brachten das Licht hervor und das Land und erfüllten beides mit Leben. Jedes Lebewesen ward so gestaltet, dass es in Harmonie mit den umgebenden Elementen gedeihe. Und all das geschah zum Guten aller Geschöpfe. Doch wussten die Ersten in ihrer Weisheit, dass Balance ein Gegengewicht erfordert, eine Kraft, welche ihre Schöpfung prüft und fordert. Denn ohne diese könnte niemand lernen, nichts sich verändern, und der Rat hätte seine eigene Absicht vereitelt: dass wir selbst groß und weise werden. Deshalb wurde einem der Väter die Aufgabe anvertraut, all das zu erschaffen, was dem Land und dem Leben schädlich ist. Einer war dafür verantwortlich, Kummer und Not hervorzubringen.«
Das war eine alte Geschichte, die Ogea jedes Mal zu Nordsonn vortrug, doch sie fesselte jeden Einzelnen in der Menge, die so gebannt lauschte, wie Braethen es noch nie erlebt hatte. Vielleicht hatten die lang anhaltenden Unwetter dafür gesorgt, dass die Menschen im Helligtal in letzter Zeit ein wenig mehr über die eigene Sterblichkeit nachsannen.
»Zu Anfang diente der Rat voller Freude. Geräusche und Gesänge begleiteten die Erschaffung eines jeden Lebewesens und erfüllten das Land mit pulsierender Kraft. Doch der Eine fand Vergnügen an seiner Aufgabe, die Menschen durch Leiden zu prüfen. Er fügte der neuen Welt allerhand Stachel
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