Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
stand, konnte Tahn keinen anderen Ausgang erkennen, keine weitere Schlucht wie die, durch die sie gekommen waren.
Die hinter den Felsen untergehende Sonne fiel wie mit ei nem Lineal begrenzt nur auf eine Seite der Stadt. Die westliche Hälfte lag bereits in tiefem Schatten. Doch Tahn sah nirgends eine Lampe flackern.
Die Stadt schien verlassen zu sein.
Tahn erwartete, Herdfeuer zu riechen und Vieh. Männer sollten zu hören sein, die sich nach ihrem Tagwerk zu einem Krug Bier aufmachten oder heim zu ihren Frauen. Nichts. Kein Hund bellte, kein trotziges Kind protestierte gegen seine Schlafenszeit. Eine unheimliche Ruhe hing über dieser Stadt. Die außen liegenden Gebäude waren von Kletterpflanzen überwuchert, die an den hölzernen Wänden genug Halt fanden. Weiter im Inneren der Stadt ragten glatte weiße Wände in einsamer Würde in die Höhe, als suchten sie das Licht, das gerade vom Himmel wich. Doch selbst diese Wände wiesen teilweise Risse und Löcher auf. Der Schutzwall der Stadt – die Felsenklippen – war zu ihrem Sarkophag geworden.
»Schau dir das an«, sagte Sutter staunend. »Die Stadt muss mindestens tausend oder zweitausend Jahre alt sein. Ich habe noch nie gehört, dass Ogea so einen Ort in seinen Geschichten erwähnt hätte.
Vielleicht bleiben manche Orte den Toten überlassen.
»Na los!«
Der weiche Lehmboden der Schlucht ging in eine flache, breite Rinne über, die zu einer natürlichen Quelle hinabführte und dann wieder auf das höhere Niveau der Stadt anstieg. Sie tränkten die Pferde und banden sie in einem Eschenwäldchen an, ehe sie die Anhöhe hinaufkletterten und sich die Stadt aus der Nähe ansahen.
Am Rand eines anderen Eschenhains lag ein Friedhof. Er erstreckte sich mehrere hundert Schritt weit bis zu einem steinernen Tor und verlief um den ganzen Krater herum wie eine äußere Stadtmauer. Oder eine Warnung , dachte Tahn.
Sie traten über rechteckige Grabsteine hinweg, die halb im Boden versunken waren, und umgingen steinerne Grabmäler so groß wie kleine Badehäuser. Die schnurgerade Grenze der Dunkelheit, die über der Stadt lag, schien sich immer schneller vorwärtszubewegen. Augenblicke später sah Tahn zu, wie die Dunkelheit an der östlichen Felswand emporglitt. Das Gefühl, dass die Sonne sich bewusst aus diesem ungeheuerlichen Loch in der Erde zurückzog, ließ Tahn nicht mehr los. Er und Sutter suchten sich vorsichtig einen Weg zwischen den Gräbern hindurch. Wucherndes Gras raschelte um ihre Beine. Der sonderbare Geruch der ungepflegten Wiese und der schiefen Grabsteine lag unter dem Duft nachtblühender Blumen, die stets nur da zu gedeihen schienen, wo Menschen im Tod versammelt lagen.
Grillen begannen zu zirpen, erst vereinzelt und ohne Rhythmus, dann in gemeinsamem Konzert.
Plötzlich hörte Tahn ein Scharren.
Er erstarrte im tiefen Schatten eines aus Stein gemauerten Mausoleums und legte den Zeigefinger an die Lippen, um Sutter zu warnen.
Sutter runzelte die Stirn und setzte zum Sprechen an. Tahn hielt dem Rübenbauer schnell die Hand vor den Mund.
Da war das Scharren wieder, ein kratzendes Geräusch wie von kahlen Winterästen, die im Wind aneinanderstießen oder eine Scheunenwand streiften. Doch es wehte kein Wind. Und das Geräusch klang wie von einem Menschen bei irgendeiner Tätigkeit verursacht. Tahn legte einen Pfeil an die Sehne, und Sutter zog langsam sein Schwert. Tief geduckt spähte Tahn um die Ecke des Mausoleums. Er starrte auf der Suche nach dem Verursacher angestrengt in die nächtliche Dunkelheit.
Wieder kam das Geräusch, und ihm stockte der Atem. Tahn blinzelte sich den Schweiß aus den Augen, und grausige Bilder von verkohlter Erde und geschmolzenem Gestein drängten sich ihm auf. Dann sah er eine Bewegung in der Dunkelheit. Eine schattenhafte Gestalt beugte sich über ein Grab und schien die Inschrift auf dem Grabstein zu lesen. Sanft berührte sie den Boden, und lange, dünne Finger gruben sich leicht in die Erde, als sei die Gestalt in Gedanken versunken.
Ein Trauernder?
Sie hob den Arm in die Nacht und stieß dann die Hand tief in den Boden. Die Erde bewegte sich kaum, während die Gestalt den Arm hin und her bewegte, als taste oder grabe sie nach etwas. Sie hielt inne, und es schien, als hätte sie das Gesuchte gefunden, denn sie zog den Arm aus dem Boden. Die Kapuze fiel direkt über das Loch in dem Grab, als die Gestalt den Kopf zum Boden senkte, als wollte sie den Staub einatmen.
So verharrte sie einige Augenblicke
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