Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
er seinen Bogen und den einen Pfeil. Er schüttelte Matsch und Wasser von der Sehne, wischte die Befiederung des Pfeils hastig an seinem Umhang ab und rannte zum Haus. Er legte den Pfeil an, spannte den Bogen und sprang die Stufen hinauf zur Tür.
Im Haus war es plötzlich ganz still.
Tahn machte einen Satz über die Schwelle, den Bogen hoch und locker angelegt.
Im Kamin brannte ein ordentlich geschichtetes Feuer, doch alles andere in seinem Haus war zerbrochen und überall verstreut. Der Tisch war auf die Seite gekippt, irdenes Geschirr auf dem Boden in Scherben gesprungen. Eintopf war an eine Wand gespritzt und bildete eine große Pfütze um einen Topf in der Ecke. Wendras wenige Bücher lagen halb verkohlt neben dem Feuer, in das jemand sie offenbar hatte werfen wollen.
All das nahm Tahn mit einem Blick wahr, während er zugleich den Bogen nach links schwenkte, wo Wendras Bett unter dem Dachboden stand.
Sie lag auf ihren Decken, mit angezogenen, weit gespreizten Knien.
Nein, um des Allwillen!
Dann sah Tahn in den Schatten unter dem Dach die gedrungene, massige Gestalt am Fußende von Wendras Bett. Sie war tief gebeugt, viel zu groß, um unter dem Winkel aufrecht stehen zu können. Mit beiden Händen umklammerte sie ein Bündel, eine Rosshaardecke. Der Gestank von Schweiß, Blut und Geburt vermischte sich mit dem Duft aus Wendras Kochtopf.
Die Kreatur wandte langsam den mächtigen Kopf zu Tahn herum. Auch Wendra sah zu ihm herüber, und entsetzliche Angst leuchtete aus ihren erschöpften Augen. Schwach streckte sie einen Arm nach ihm aus und bewegte die Lippen, konnte aber offenbar nicht sprechen.
Mit tiefer, kehliger Stimme sagte die Kreatur: »Quilleszente überall.« Die Worte klangen schwerfällig und abgehackt, so wie Fremdländer sprachen, wenn sie die gemeine Sprache noch nicht gut beherrschten.
»Ein Bar’dyn«, flüsterte Tahn. Die letzten Zweifel verflogen.
6
ZAHLUNG IN SCHWÜREN
D er Mann mit der sonnengebräunten Haut marschierte in einem dünnen Umhang durch den frühen Morgen. Im Land seiner Heimat hätte er ein solches Kleidungsstück nicht gebraucht. Aber hier in den Hügeln, so früh am Tag mit Reif überzogen, war es recht kalt. Der Mann hätte das vielleicht klaglos ertragen, doch das Kind, das er unter diesem Umhang fest an seine Brust drückte, gewiss nicht.
Der Säugling schlief, während der Mann marschierte, weder langsam noch eilig. Sicheren Schrittes.
Er kannte sein Ziel und würde es bald genug erreichen. Also hielt er achtsam ein mäßiges Tempo ein. Das Kind sollte schlafen und ausgeruht sein, wenn er dort ankam.
Schweigend erklomm er Hügel, stieg in Täler hinab und wanderte auf Wegen unter ausladenden Zweigen dahin, Ahorn, Tanne und Eiche. Das Kind schlief die ganze Zeit und ahnte nicht, was es erwartete, wenn die Sonne am Himmel heraufzog. Der Mann hatte mehrmals täglich angehalten, um den Säugling zu füttern – so kam er recht langsam voran. Doch damit würde es bald vorbei sein. Erleichterung und Traurigkeit zugleich durchfuhren den Mann bei diesem Gedanken. Wie jedes Mal.
Er erklomm eine Anhöhe und sah einen kleinen Bauernhof auf einem sanft ansteigenden Hang eine Wegstunde entfernt. »Beinahe Zeit für dich, mein Kleiner«, flüsterte er. »Wir werden ja sehen, wie du heute aufgenommen wirst. Ich möchte dich ungern wieder mitnehmen. Dieser Weg führt für dich nur in eine Richtung.«
Das Kind erwachte, als merkte es, dass es angesprochen wurde. Still und nachdenklich, wie Kleinkinder oft sein können, starrte es in das sonnenverbrannte Gesicht des Mannes empor.
»Aber erst muss verhandelt werden, ehe wir beide getrennter Wege gehen, mein Kleiner«, fuhr der Mann fort. »Und ich bete darum, dass sie genug haben, um ein Angebot zu machen, das dir gerecht wird.«
Das Kind, vor nicht einmal zwei Wochen entbunden, blickte auf. Einen Wimpernschlag lang schien es seine Worte zu verstehen. Doch bald schweifte der verschwommene Blick in eine andere Richtung, und der Mann konzentrierte sich wieder auf den Weg, der noch vor ihm lag. Er war diszipliniert genug, um sich von weicher Kinderhaut nicht auf Gedanken bringen zu lassen, die keinen unmittelbaren Nutzen für seinen Auftrag hatten. Denn sein Auftrag war sein wichtigstes Anliegen.
Da gab es keinerlei Ausflüchte.
Der Tau fing das Morgenlicht ein und glitzerte dem Mann wie hundert bläuliche Sternchen vom Boden entgegen. Vor langer Zeit, in einem anderen Leben, hätte er zumindest kurz innegehalten, um über
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