Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Lachen, Sutter. Das ist deine große Stärke, die ich an dir am meisten mag. Hier, sing mir etwas vor. Deine Stimme ist grauenhaft.«
Sie holte die Spieldose hervor, die sie bei ihrer Flucht aus dem Helligtal mitgenommen hatte, klappte den Deckel auf und ließ das Lied erklingen. Die ganze Zeit über streichelte sie weiter ihren Bauch. Während die Nacht um sie herum immer dunkler und kälter wurde, lagen sie der Wärme wegen dicht nebeneinander, und Sutter versuchte sich im Singen, so erbärmlich wie üblich. Und sie lachte tatsächlich. Inmitten so vieler unschöner, unmusikalischer Dinge klang ihr Lachen wie Musik.
Wendras tragische Geschichte und die stille Entschlossenheit, mit der sie zu ihrem Bruder hielt, waren die einzigen Themen, zu denen Sutter wohl beim besten Willen kein Witz einfallen würde. Und irgendwie fand er das ganz richtig.
12
FRAGEN UND TRÄUME
D er Sheson und Braethen kehrten zurück, als es vollkommen dunkel war. Sie ritten in nordöstlicher Richtung weiter, die ganze Nacht lang und auch den nächsten Tag. Die Vegetation des Graslands wurde vielfältiger – Zedern und Salbei wuchsen knapp mannshoch, buschige Kiefern trugen lange Zapfen. Grüppchen aus Eschen und Eichen reckten sich himmelwärts – das Helligtal lag weit hinter ihnen. In alle Richtungen erstreckte sich der Himmel bis hinab zum ebenen Horizont, wo er auf die Erde traf, als begegneten sich zwei Hälften eines Ganzen.
So unerreichbar der weite Himmel über ihnen, so greifbar war die Erde unter ihren Füßen. Der Himmel erzählte von Möglichkeiten, die Erde von der Wirklichkeit. Tahn musste an die Geschichte von Palamon denken, dem ersten Sheson, der gegen Johan’el gekämpft hatte, den ersten Draethmorte des Quietus. Große und Götter im Widerstreit.
Palamon stand für die wirkliche körperliche Kraft des Menschen, Johan’el für die Energie dessen, was sein könnte. Tahn sann darüber nach, dass beide notwendig waren, weil es eins ohne das andere nicht geben konnte.
Doch unter dem endlosen Himmel und auf der beständigen, geduldigen Erde unter ihm fragte er sich auch, ob Menschen leben könnten, wenn sie nur das eine oder das andere hätten.
Als Vendanji sie von der Straße führte und sie unter den Bäumen weiterzogen, zerriss der Schrei eines Raubvogels die nächtliche Stille.
Sie gelangten zu einer breiten Klippe, einer fünfzig Fuß hohen, senkrechten Felswand. Vendanji war bereits abgestiegen und bestimmte eine leicht ausgehöhlte Stelle am Fuß der Klip pe zu ihrem Lager. Braethen kam als Letzter an. Als er eben erst sein Pferd angebunden hatte, kehrte Mira schon von einer raschen Erkundung zurück und begann sofort, Holz für ein Feuer zu sammeln. Tahn und Sutter beeilten sich, ihr zu helfen. Bald verdrängte ein helles, warmes Feuer die Kälte und tauchte das abgehärmte Gesicht des Sheson in ein weicheres Licht.
Tahn erwartete, dass Vendanji jetzt mit ihnen sprechen würde. Es ging bestimmt um etwas Wichtiges, wenn sie heute an einem richtigen Feuer sitzen durften. Doch der Sheson sagte nichts, und Tahn fand es noch beunruhigender, wenn der gro ße Lenker so schweigsam war.
Aber er wollte nach wie vor Antworten auf seine Fragen. Warum mussten sie nach Decalam? Weshalb hatte er Wendra mitkommen lassen, obwohl sie angeblich auch aus Helligtal fortgegangen waren, um den Ort und alle ihre Familien zu schützen? Eine bestimmte Frage jedoch wollte er Vendanji heute Nacht unbedingt noch einmal stellen – er musste es wissen. Tahn rückte näher an ihn heran, um allein mit ihm zu sprechen, und fragte leise: »Kannst du mir jetzt sagen, warum die Stilletreuen es auf mich abgesehen haben?«
Der Sheson antwortete nicht und sah Tahn nur mit großen Augen prüfend ins Gesicht. Dieser Blick erinnerte Tahn an die Art, wie Balatin ihn oft spätabends angesehen hatte, wenn sie alle zusammengesessen, Wacholdertee getrunken und geröstete Haselnüsse gegessen hatten: Wissen und Ungewissheit zugleich. Nur bei diesen Gelegenheiten hatte Tahn mit seinen beharrlichen Fragen bei seinem Vater etwas erreicht. Nach manchen Dingen hatte er ihn allerdings nie gefragt, wie den Worten, die er sprach, ehe er einen Pfeil abschoss, oder nach den Träumen von einem Mann, den er nicht sehen konnte.
Aus nächster Nähe konnte Tahn die dünnen, strengen Falten um Vendanjis Mund erkennen. Auch die erinnerten ihn an Balatin, obwohl die Falten seines Vaters eher vom vielen Lachen und Lächeln herrührten. Tahn fragte sich, welche Mimik sie
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