Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
und sah zartes Violett und Blau einen neuen Tag ankündigen. Auf einmal hörte er jemanden hinter sich atmen.
Er drehte sich um und entdeckte Mira, die ebenfalls den Sonnenaufgang beobachtete. Sie konnte nicht wissen, was er dachte, schien aber weise genug zu sein, um den Augenblick nicht mit Worten zu verderben. Wie stets in diesem Moment kam Tahn sich irgendwie vor wie ein bloßer Beobachter, der Tag für Tag zuschaute, wie der Morgen kam.
An diesem Tag erhellte das bläuliche Morgengrauen Miras Gesicht und ließ ihre klaren, grauen Augen schimmern wie Eis. Und an diesem Morgen war er froh, nicht allein zu sein.
Gleich darauf wandte sie sich ab, um alles für den Aufbruch bereit zu machen. Und im selben Augenblick kamen Tahn Worte in den Sinn, die er in der Nacht zuvor erlauscht hatte: das Heilige Tal. Irgendetwas daran kam Tahn beruhigend vor, fühlte sich richtig an. Er beschloss, Braethen später danach zu fragen.
13
MYRR
Z wei weitere Tage ritten sie gen Nordosten.
Die Unwetter traten nicht mehr mit der gleichen Heftigkeit auf. Die schwarzen Wolken schienen über dem mächtigen Helligwald zu verweilen und den Rest der Welt dem kalten Himmel mit hohem, bleigrauem Dunst zu überlassen. Zumindest sah es so aus, als sie am dritten Abend, nachdem sie Bollorg verlassen hatten, das Ende des riesigen Waldgebiets erreichten, in dem Tahn bisher zu Hause gewesen war.
Auf dem Kamm einer Anhöhe hielt Vendanji an und starrte in das flache Tal vor ihnen hinab. »Myrr«, sagte der Sheson, als Tahn und die anderen neben ihm Halt machten.
Der Anblick glich nichts, was Tahn je gesehen hatte. Wenn das Feuer herabgebrannt und der Abend bei mehreren Bechern Bitter spät geworden war, erzählten Leute im Helligtal von riesigen Städten, in denen man demselben Gesicht nie zweimal begegnete. Für Tahn waren diese Geschichten wenig mehr als Tagträume gewesen – er glaubte zwar, dass es solche Orte geben mochte, aber diesen Schilderungen könnten sie niemals wirklich entsprechen.
»Bei meinen Wurzeln, kann man die Stadt überhaupt an einem Tag durchqueren?« Sutter starrte ungläubig auf die Erfüllung seines großen Wunsches.
Vendanji drehte sich zu ihnen um. »Von hier an wird alles, jede einzelne Entscheidung, sich auf den Ausgang unserer Reise auswirken. Gebt acht, dass keiner von euch unseren Pfad durch irgendwelche Dummheiten verdüstert.« Dann bedachte er Sutter mit einem strengen Blick. »Es gibt Pfade, deren Verlauf wichtiger ist als die Menschen, die darauf reisen.«
Der Sheson ließ seinen Worten Zeit zu wirken.
»Seht niemandem in die Augen«, warnte die Fern.
»Ihr werdet euch nicht mit den Leuten unterhalten«, fügte Vendanji hinzu. »Wenn ihr sprecht, dann niemals über euch oder unser Ziel. In Myrr hat jedermann vier Ohren.«
»Wie lange bleiben wir hier?«, fragte Braethen. »Ich würde gern die …«
Vendanji schnitt ihm das Wort ab. »Du und ich haben Wichtiges zu tun, Sodale.«
Tahn und Sutter wechselten mit aufgerissenen Mündern einen Blick. Der Sheson hatte Braethen noch nie einen »Sodalen« genannt, soweit sie wussten. Irgendetwas war geschehen. Nach den Schlägen, den Demütigungen, den endlosen Waffenübungen, bei denen Braethen sich so schwergetan hatte, würdigte Vendanji ihren Freund jetzt mit dem Titel, nach dem er sich sein Leben lang gesehnt hatte. Die klare, volltönende Stimme des Sheson dieses Wort aussprechen zu hören berührte etwas in Tahn. Er betrachtete den Sohn des Autors, den ewigen Schüler, und entdeckte eine neue Entschlossenheit und Selbstsicherheit in Braethens Haltung. Sie wirkte weder arrogant noch hochmütig, sondern zeigte eher die wahre Kraft seiner Überzeugungen.
Zu den anderen sagte Vendanji: »Wir werden uns ein Gasthaus suchen, aber nur kurz in der Stadt bleiben. Ihr alle solltet euch vor allem ausruhen. Tahn, du weichst Mira nicht von der Seite.« Dann wandte der Sheson sich mit freundlicherer Miene an Wendra. »Anais, ich muss Euch bitten, in Anwesenheit Fremder nicht zu singen oder Eure Musik zu spielen. Sie würden das falsch auffassen.«
Wendra blickte verwundert drein, widersprach Vendanji aber nicht.
Tahn öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
»Für deine Fragen ist später noch Zeit, Tahn«, erklärte der Sheson. »Zunächst einmal brauchen wir alle etwas Warmes im Magen und ein Kissen unter dem Kopf. Morgen ist auch noch ein Tag.« Tahn schloss den Mund wieder.
Vendanji nickte, wendete sein Pferd und ritt ihnen voran die Straße nach Myrr
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