Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
hinab.
»Dem hast du ja gehörig die Meinung gesagt, Tahn«, spottete Sutter. Er klopfte Tahn auf die Schulter und ritt dann voraus, um Wendra einzuholen.
Schon mehrere hundert Schritt vor dem Tor von Myrr war die Straße von kleinen, wackeligen Buden und Marktkarren gesäumt. Einen Steinwurf von der Straße entfernt reihten sich solider aussehende Gebäude. Am Straßenrand wimmelte es von Händlern, die lauthals ihre Waren anpriesen. Kinder spielten in den vielen Pfützen, junge Hunde bellten und sprangen neben ihren Herren her.
Der Gestank nach menschlichen Exkrementen war überwältigend. Er stieg aus einem großen Loch auf, das viel zu nah an Garküchen ausgehoben worden war, in denen Eintopf zu einem Kupferstück die Schale verkauft wurde.
Je näher sie dem Stadttor kamen, desto dichter wurde das Gewühl. Bald mussten sie die Pferde auf umständlichen We gen durch das geschäftige Treiben lenken. Einfache Fackeln an hohen Pfosten beleuchteten die Straße, ließen aber sämtliche Gesichter im Schatten. Aus einigen der größeren Gebäude, die der Stadtmauer am nächsten standen, schwappten immer wieder Wogen von Gelächter heraus. Tavernen, vermutete Tahn.
Dreißig Schritt vor dem Tor fand das Chaos ein Ende. Niedrige Mauern mit langen, rostigen Eisenspitzen darauf flankierten den Zugang. Die unbefestigte Straße ging in eine flache Rampe über, nur etwa einen Fuß hoch, die ordentlich gepflastert war. Außen vor dem Tor standen keine Wachen. In Feuerbecken an den niedrigen Mauern loderten helle Flammen, die Schatten auf die Stadtmauer warfen. Zwei Torflügel aus starkem Eisengitter, die beim Öffnen offenbar nach außen schwangen, schützten das mächtige hölzerne Stadttor.
»So werden wir hier also empfangen?«, scherzte Sutter. »Die haben uns wohl nicht erwartet.«
»Ruhe«, sagte Vendanji barsch. Der Sheson stieg ab und ging an die linke Seite des Tors. Dort pochte er gegen das Holz, als klopfe er an die Haustür eines Freundes. Gleich darauf öffnete sich eine kleine Tür innerhalb des großen Torflügels. In der Öffnung erschien ein Mann in einem engen Lederwams und einem grünen Umhang.
Der Mann begann zu schimpfen, doch Vendanji schob eine Hand durch das schmiedeeiserne Gitter und berührte den Wächter sacht am Handgelenk.
»Was macht er da?«, fragte Sutter.
»Nachts lassen sie keine Vagabunden in die Stadt«, erklärte Mira mit einem zornigen Unterton in der Stimme. »Die Sperrstunde beginnt zur Mitternacht. Hier herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, und die Bevölkerung ist unmöglich genau zu erfassen. Nur Grundbesitzer und Reisende, die in einem Gasthaus übernachten, dürfen über Nacht in der Stadt bleiben. Grundbesitzer wählen, Händler und Reisende trinken.«
»Aber in einer so riesigen Stadt muss es doch auch Arme und Obdachlose geben?«, fragte Braethen ungläubig.
Mira warf einen Blick auf die provisorische Stadt außerhalb der Mauer, die sie gerade durchquert hatten. »Diejenigen Armen, die innerhalb der Stadtmauern überleben, sind gefährlich. Misstraue jedem, der hier kein Zuhause hat. Du kannst sicher sein, dass er in dir eine heiße Mahlzeit und ein Bad sieht.« Sie verstummte und sah zu, wie Vendanji dem Mann am Tor eine letzte Anweisung gab. Mit gedämpfter Stimme fügte Mira hinzu: »Aber auch sie müssen von etwas leben.«
Die linken Torflügel öffneten sich ein paar Fuß weit.
Als Vendanji wieder aufsaß, sah Tahn, wie er einen letzten Blick über die Stadt der Heimatlosen schweifen ließ, die vor den mächtigen Mauern von Myrr hausten. Der Sheson sprach leise zu Mira, aber Tahn schnappte die Worte auf. »Es hat bereits begonnen. Die Gerüchte über die Stilletreuen vertreiben sie aus ihrer Heimat.« Dann flüsterte der Sheson etwas, das nur Tahn hören konnte: »Diese armen Menschen.« Das zutiefst empfundene Mitgefühl in der leisen Stimme des Mannes überraschte ihn. Es flößte ihm auch eine Art Hoffnung ein, wie er sie lange nicht mehr gekannt hatte. Vielleicht, weil er die Unbeirrbarkeit und Kraft spürte, mit denen der Sheson seiner Sache diente.
Sie folgten Vendanji durch den schmalen Spalt zwischen den Torflügeln und bogen danach sofort nach links in eine Seitengasse ein, wo die Dunkelheit sie verbarg.
Die Hauptstraße vom Tor zur Stadtmitte war gepflastert, doch die übrigen Straßen und Gassen waren unbefestigt und mit Stroh bestreut, weil sie bei Regen schlammig und rutschig wurden. Auf den breiteren Straßen wimmelte es von Leuten, also
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