Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
führte Vendanji sie auf verschlungenen Wegen durch schmale Gassen dicht an der Stadtmauer entlang. Zerbrochene Fässer, kaputte Handkarren, Müllhaufen und weggeworfene Kleidungsstücke lagen überall an der Mauer und neben den Türen der Häuser. Hin und wieder kamen sie an jemandem vorbei, der wie ein Bettler aussah – Mira bezeichnete diese Leute als »Gassenhändler«. Doch diese Menschen mit einem Blick wie Tiere bettelten nicht und sprachen keine Passanten an. Sie beobachteten nur, wie Tahn und die anderen die schmalen Gassen überquerten, die diese Leute ihr Zuhause nannten, mit einem verächtlichen Zug um den Mund. Die Luft stank nach Exkrementen, und Ratten und Aasvögel suchten im Stroh nach Essbarem, wobei Letztere sich bewegten, als hätten sie vergessen, dass sie fliegen konnten.
Von fern war das Summen der geschäftigen Hauptstraßen zu hören. Hier jedoch, in den stillen Gassen am Rand der Stadt, trieben sich nur Gestalten herum, die alle Skrupel vergessen hatten und ihrem heimlichen Gewerbe nachgingen. Sutter umklammerte den Griff seines Dolches, verfolgt von berechnenden Blicken.
Wendra hingegen betrachtete die Menschen, die an den Mauern saßen, und Tahn hörte Braethen mehr als einmal murmeln: »Kann man denn nichts für sie tun?« Tahn dachte darüber nach, fragte sich aber auch, ob diese Menschen irgendeinem Zweck dienten. Der Gedanke überraschte ihn und wollte ihn nicht mehr loslassen. Eine Antwort darauf fand er nicht.
Vendanji führte sie schließlich zu einer breiteren Querstra ße, die vom Licht aus den Fenstern der Häuser beleuchtet wurde. In der Ferne strahlte ein hell erleuchtetes, beeindruckendes Bauwerk mit mehreren Ebenen und einem halben Dutzend Türmen. Andere Gebäude wirkten ebenfalls sehr prächtig, mit brennenden Fackeln auf den hohen Dächern, die wie ferne Glühwürmchen blinkten, aber keines ragte so hoch und prachtvoll in den Nachthimmel auf.
Jole blieb abrupt stehen, und Tahn wurde nach vorn geschleudert. »Pass auf, wo du hinreitest«, schalt Mira. Die anderen hatten vor einem Stall angehalten, und Mira hatte Jole am Zaumzeug gepackt, damit er nicht einfach weiterlief.
»Entschuldigung. Ich habe nur noch nie so ein …«
»Und pass auf, was du sagst, Tahn«, warnte Mira leise. »Deine Bemerkungen verraten anderen viel über dich.«
Ein Tor wurde nach innen geöffnet, und ein Mann mit einem üppigen Vollbart ließ sie ein. Kaum war Braethen als Letzter durch die breite Tür geritten, knallte der Mann sie wieder zu und legte den Riegel vor.
»Ah, Bohne, mein Bester, schön, dich zu sehen«, sagte der Mann.
Die Worte kamen von dicken Lippen unter buschigem Haar. Tahn hatte keine Ahnung, mit wem der Mann überhaupt sprach.
»Gleichfalls, Milear«, entgegnete Vendanji und stieg ab.
Sutters Kopf fuhr herum, als hätte ihn jemand geohrfeigt, und er und Tahn wechselten mit stummen Lippenbewegungen das Wort Bohne?
»Mein liebes Mädchen, wie geht es dir?«
Mira glitt aus dem Sattel. »Gleich viel besser, wenn ich ein vertrautes Gesicht sehe, Milear.«
Der Mann wischte sich die Hände an seiner Lederschürze ab und streckte die Arme nach ihr aus. Mira umarmte ihn, und er tätschelte ihr so vertraut den Rücken, als sei sie seine Toch ter.
Dann ließ er sie los und deutete auf Vendanji. »Du auch, Bohne, mein Guter, lass dich drücken.« Der Hauch eines Lächelns u mspielte Vendanjis Lippen, und er nahm die Einladung an. Milear tätschelte auch Vendanji beinahe väterlich den Rücken .
Sutter blieb der Mund offen stehen. Er und Tahn sahen sich mit großen Augen an und wiederholten mit stumm bewegten Lippen – Bohne .
Die Übrigen stiegen ab, und Milear ließ den Sheson los, trat zurück und musterte dessen Begleiter. »So was lebt also im Helligtal. Prächtige junge Leute, Bohne, das erkenne ich gleich am Kiefer. Robust. Handfest und resolut.«
»Sag das lieber leise, alter Freund. Noch kennt uns niemand in der Stadt«, bat Vendanji.
»Bohne, mein Bester, es ist unmöglich, in Myrr unerkannt zu bleiben. Fremde, werden sie sich erzählen, aber sie werden es sich erzählen. Ihr könnt nicht lange bleiben.«
»Nur einen Tag«, entgegnete der Sheson.
Der Mann blickte zu den Deckenbalken auf, als schaue er in die Ferne, und Tahn begriff, dass er Erinnerungen nachhing. Dann wurde sein Blick wieder scharf, und er wandte sich Vendanji zu. »Schon recht, ich werde nicht mehr davon sprechen.« Erneut wischte er sich die Hände an der Lederschürze ab, ehe er sich
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