Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
denken, was das heißen mochte. Vielleicht waren diese Albträume in Wirklichkeit nur ein Fieberwahn. Wenn es sich tatsächlich um die Geister der Toten handelte, sah er sie vielleicht nur, wenn sie in der Nähe waren. Womöglich hatte man die Mimen auch freigelassen.
Sutter richtete seine Gedanken auf seinen Einstand. Heute vermisste er Filmoere besonders. Sein Vater würde nicht da sein, um ihm als Beisteher zu dienen. Das würde niemand tun. Er nahm an, dass er dennoch seine Melurajahre hinter sich lassen würde, aber sie würden sich winselnd davonschleichen, und es würde nichts bis auf den feuchten, erstickenden Gestank des Drecks und ein paar bescheidene Zellengenossen geben, um ihn einmal an dieses Fest zu erinnern.
Er verbrachte einen Augenblick damit, in die Dunkelheit zu starren und Thalen anzusehen. Er konnte seine Umrisse kaum erkennen. Vielleicht konnte er als Erster Beisteher einspringen, aber würde er wissen, was er zu sagen oder zu tun hatte? Sutter hatte immer die gleichen oder doch fast die gleichen Worte gehört, wenn jemand den Wandel gesprochen hatte. Ein Schnitter aus Risill Ond wäre keine schlechte Wahl, wie er fand. Nicht nach der Geschichte, die die Spielleute erzählt hatten.
Er musterte seine Zellengenossen von den Spielwagen. Vielleicht kannten sie ja die richtigen Worte und konnten noch etwas Zeremonielles hinzufügen. Aber ihm wurde schleichend bewusst, welch finstere Ironie darin gelegen hätte – wieder seine alten Wunden. Selbst für den Fall, dass sie sich dazu bereit erklärten, war Sutter sich nicht sicher, ob er jemals einen Wagenmimen als Beisteher dulden könnte.
Aber er gestattete es seinem Verstand dennoch nicht, sich zurück in die Vergangenheit zu begeben.
Und er beklagte in jenen frühen Morgenstunden lange Zeit seine Flucht aus Helligtal, nicht aus Heimweh nach dem Ort, sondern aus unausgesprochener Dankbarkeit den einfachen Leuten gegenüber, die ihm ein Zuhause und genug Hoffnung geschenkt hatten, um ihn überhaupt erst glauben zu lassen, dass er es verdient hätte, Helligtal zugunsten von etwas Größerem und Besserem zu verlassen.
Wieder wünschte er sich, er hätte Gelegenheit gehabt, seiner Mutter und seinem Vater vor Beginn dieser Reise ein paar Dinge zu sagen. Und im Moment fragte er sich, ob sie stolz auf ihn sein würden. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er das wollte. Am Tag seines Wandels wollte er das mehr als alles andere.
Dann wandten sich seine Gedanken wie immer Tahn zu.
Der Bursche hatte vielleicht Geheimnisse!
Ein paar davon hatte er Sutter erst vor wenigen Tagen am Ufer des tiefen Stroms verraten. Aber Sutter spürte mehr. Und doch spielte nichts davon eine Rolle. Sein Freund hatte ihn immer gut behandelt, was vielen in Helligtal angesichts seiner nimmer endenden Scherze schwerfiel.
Er hoffte, dass Tahn seine eigenen Prügel hier im Verlies von Decalam überlebt hatte. Wenn ja, wie würde sein Freund seinen eigenen Wandel begehen? Was würden sie beide tun, wenn sie weder fliehen konnten noch freigelassen wurden? Würden die anderen sie finden? Warum waren der Sheson und die Fern überhaupt nach Helligtal gekommen?
Sutter wusste, dass seine ernsten Grübeleien von den Schlägen, dem Schlafmangel und der Trostlosigkeit dieses Ortes begünstigt wurden.
Er war auf jeden Fall erschöpft.
Und das, wie er wusste, nicht nur aufgrund der Flucht, auf der sie sich seit Helligtal befunden hatten. Der Tribut, der ihm abverlangt wurde, war älter und ging tiefer.
Also legte er sich wieder auf den Stein und versuchte, noch für ein paar Stunden in den Schlaf zu flüchten. Und der Schlaf überkam ihn schnell und linderte vielerlei Schmerzen.
Bis wieder ein Gesicht im Nebel aufstieg.
Bis wieder ein Wachtraum begann.
Diesmal allerdings zitterte Sutter nicht ganz so heftig, vielleicht, weil er sich langsam daran gewöhnte, oder auch, weil alles so traurig war, dass es seine Furcht milderte.
Er starrte lange Zeit in die leeren Augen dieses Geistes, der bald sterben würde.
20
Entscheidungen und Offenbarungen
D as Echo zahlreicher Schritte ließ Tahn halb erwachen. Auf dem Gang jenseits ihrer Zellentür wimmelte es von ungewöhnlich vielen Wachen. Dann ließ das Scharren eines Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde, Tahn endgültig hochschrecken. Zuvor hatte dieses Geräusch ihm immer ein gewisses Maß an Hoffnung beschert, aber heute wandte er nicht den Kopf, um die Wärter zu begrüßen. Stattdessen lag er regungslos auf dem Steinboden und
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