Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
»Unglücklicherweise bleibt die Wahrheit dieses Tages leider oft unbemerkt, wenn man die Wärme und ein Fest mit Essen und Liedern genießt.«
»Was meinst du damit – unbemerkt?«, fragte Tahn.
Rolen sagte nicht sofort etwas, aber einige Augenblicke später erhob seine Stimme sich in der Stille: »Jedes Kind muss einmal Verantwortung übernehmen, Tahn – jeder von uns wird erwachsen. Aber nicht alle von uns feiern ihren Einstand. Für den Einstand ist ein Beisteher vonnöten, und während der Augenblicke des Wandels ist der Beistand in der Lage, demjenigen, der ins Erwachsenenalter übergeht, einen Teil seines Geistes zu übertragen. Es ist eine besondere Gabe, Tahn, etwas, das vielen Melura vorenthalten wird, weil sie niemanden haben, der ihnen Beistand leistet, oder weil ihre Beisteher vergessen haben, dass es gilt, ein Geschenk zu überreichen.«
Tahn setzte sich stöhnend auf und zuckte zusammen, als die Eisen seine wunde Haut weiter aufscheuerten. Langsam streckte er die Arme und Beine aus, die sich in seiner vorherigen Haltung verkrampft hatten. »Erzählst du mir von diesem Geschenk?«, fragte Tahn.
»Steh auf, Tahn«, sagte Rolen, und seine Ketten rasselten erneut. »Vielleicht hast du mehr Glück als alle anderen, dass dein Einstand inmitten von Stein und Eisen stattfindet und dein erstes Mahl der Schaum eines hungrigen Mundes ist.«
Tahn hörte, wie der Sheson auf die Beine kam und auf ihn zuzuschlurfen begann. Er wusste, dass er jetzt nicht wieder einschlafen würde, und bald hätte ihn ohnehin das beharrliche Bild der Morgendämmerung geweckt. Widerwillig stand er auf und verbiss sich die Flüche, die sein gepeinigter Körper seinen Lippen abzuringen versuchte. Er wandte sich dem schwachen Lichtschein zu, der durchs Fenster am oberen Ende der Steintreppe drang, und beobachtete, wie der Schatten eines Mannes ins Licht trat.
Weiße, schmutzige Haut spannte sich straff über den Knochen und enthüllte scharf geschnittene Gesichtszüge. Wellige braune Haare hingen in verfilzten Strähnen herab, während einige Flecken auf Rolens Schädel schon kahl waren, als hätte seine Kopfhaut den Willen verloren, seine Locken weiter zu tragen. Tahn fragte sich, ob dieses Verlies und die schlechte Ernährung für den Haarausfall verantwortlich waren. Rolens Gesicht war von einem borstigen Bart bedeckt, der seinen Mund verhüllte. Seine Robe hing ihm von den Schultern wie ein Laken von einer Wäscheleine. Wie viel Fleisch er auch immer am Körper getragen hatte, bevor er hierhergekommen war, nun war es verschwunden. Dunkle Ringe unter seinen Augen zeugten von vielen schlaflosen Stunden.
Tahn glaubte, ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen des Mannes wahrzunehmen, aber am meisten beeindruckte ihn der Ausdruck von Rolens Augen. Vor dem abstoßenden Hintergrund von Dunkelheit, Hunger und Entwürdigung sah Rolen ihn mit sanfter Hoffnung an. Er wirkte überhaupt nicht wie ein Mann, der in Ketten lag und mit jedem Atemzug dem Grabe näher kam. Er hätte am Kopfende eines Tisches beim Nordson nessen stehen können, einen vollen Weinbecher in der Hand, umgeben von seinen Kindern und Freunden, von denen kaum einer Arges von ihm dachte.
Der Sheson winkte Tahn zu sich heran, und Tahn eilte zu ihm. »Weißt du, wo Osten liegt?«, fragte Rolen.
Tahn nickte.
»Dann sieh dorthin.«
Tahn drehte sich um und starrte in die Dunkelheit, während Rolen zwei Schritte weiterschlurfte und sich zu seiner Linken einen halben Schritt hinter ihm aufstellte. Der Sheson legte Tahn die rechte Hand auf die linke Schulter und sah mit ihm nach Osten in die Dunkelheit, in der niemals die Sonne aufgehen würde.
In die kühle, abgestandene Luft hinein sprach er mit leiser, klarer Stimme: »Aus der Wiege kommst du, mein Sohn, und hast hundert Tage durchwandert, tausend und mehr. Beine, die erst gekrochen, dann gegangen und schließlich gelaufen sind. Hände, die erst den Finger einer Mutter umklammert, dann Steine gehalten und schließlich schreiben gelernt haben. Aber all das geschah in Unschuld, zum Spaß, im Scherz und im Heranwachsen, und auch wenn du manchmal die Folgen deiner Taten gesehen hast, musstest du doch nie die Verantwortung dafür übernehmen.« Rolens warmer Tonfall drang nun tiefer aus seiner Brust. »Denk daran zu laufen, um deine Beine in Übung zu halten; denk daran zu schreiben, damit die, die nach uns kommen, von deinen Gedanken erfahren können. Deine Tage erstrecken sich von nun an wie eine Perlenkette vor dir,
Weitere Kostenlose Bücher