Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
unendlich kostbar und doch unvollkommen gefertigt. Diese unvollkommenen Augenblicke sind die Entscheidungen, die du auf dich nehmen musst, mögen sie nun gut und wahr oder eigensüchtig und falsch sein. Wie es darum bestellt ist, erfährst du vielleicht erst aufgrund der Wellen, die deine Entscheidungen schlagen. Aber ob du sie nun triffst oder vor ihnen zurückscheust, sie gehören dir, anders, als es war, solange du Melura warst.«
Rolen hielt inne. Plötzlich breitete sich Wärme in Tahns Oberkörper, Armen und Beinen aus. Hitze rötete seine Wangen, und die eisige Kälte seines Kerkers wich für einen Augenblick zurück.
»Ich gelobe, dein Prüfstein zu sein, Tahn.« Bei diesen Worten lief ein kalter Schauer über Tahns gerade erst erwärmte Haut. »Dir die Folgen zu zeigen, die du hervorrufst. Aber nur, wenn du mich darum bittest. Ich kann in dir leben, als Erinnerung, als Gefährte, sogar, um dich anzuspornen. Aber erst der Wert der Wege, die du allein einzuschlagen beschließt, entscheidet darüber, ob du dich beweist oder der Verdammnis anheimfällst. Ich stehe dir am Ort dieser Verheißung bei, Tahn. Aber die Verheißung bewegt sich weiter, wenn du dich bewegst, denn sie ist der Nährboden für deine Seele, die dir Zuflucht bieten wird.«
Tahn hob die Hand und legte sie über Rolens Finger. Er hörte das Klirren seiner Ketten kaum. Er starrte in die Schwärze der Zelle und vergaß das Scheuern der Eisen an seinen Füßen, die Leere seiner Eingeweide. Die Hölle, in der er sich befand, blieb bestehen, schien aber keinerlei Bedeutung mehr zu haben, während er, seinen Zellengenossen sicher hinter sich, dastand und über diesen Tag hinaus in das Leben blickte, das vor ihm lag.
»Du trittst nun der großen Bruderschaft bei, Tahn.« Rolens Tonfall veränderte sich und wurde ehrfürchtiger. »Nimm dich in Acht, was dein Verhalten angeht. Die Neigungen der Jugend sind nicht verschwunden. Der Übergang, den du durchlebst, sorgt nicht dafür, dass du alles hinter dir lässt, was bisher war.« Rolen drehte Tahn herum und umfasste seine Schultern mit beiden Händen; die Ketten hingen herab und klirrten aufdringlich in der Stille. »Dein Weg ist ein tiefer Fluss, Tahn, angefüllt mit Strömungen, die reißend dahineilen. Oft wirst du den Eindruck haben, dass sie getrennt von dir sind, aber wisse, dass sie dein sind. Jedes widerstreitende Gefühl beweist, dass du lebst und atmest und bist. Lass dir diese Selbstgewissheit niemals nehmen. Ganz gleich, welchen Preis du dafür zahlen musst, Tahn, stell deinen eigenen Atem nicht infrage. Er ist so sicher wie die Sonne, die die Nacht vom Tag scheidet.« Nun zitterte Rolens Stimme, und er stieß bruchstückhaft Worte hervor, als würde er Bilder schildern, die nur kurz vor seinen Augen aufblitzten. »Aber hüte dich, Tahn! Die Grenze, die das Licht von der Dunkelheit scheidet, ist ein Ort, an dem man leicht seine Überzeugungen verlieren kann, ist sie doch die umgekehrte Dunkelheit, das auf den Kopf gestellte Licht. Sie lockt, verwirrt einen aber zugleich. In ihr liegt eine Gedankenstarre, die einen unmerklich auf den Weißen zuführt. Und die Verderbtheit unter dieser Oberfläche verdirbt die Seele, die du bewahren möchtest: deine eigene.«
Tahn runzelte bei diesen Worten die Stirn. Sie ergaben für ihn keinen Sinn.
Aber Rolen lächelte angesichts seiner Verwirrung nur und tätschelte ihm die Schulter, so dass seine Kette misstönend klirrte. »Ich hätte allerdings darauf gehofft, mir mit dir einen Gänsebraten zum Morgenbrot zu teilen.« Er schenkte ihm ein schiefes Lächeln.
»Ist das der Wandel?«, fragte Tahn. »Ist das alles?«
»Was sollte er denn deiner Ansicht nach sonst noch sein?« Rolen sah ihn durchdringend an.
»Sutter und ich warten schon so lange auf diesen Augenblick«, jammerte Tahn. »Mädchen …« Er ließ ein verlegenes Lächeln über seine Mundwinkel huschen. »Wir haben einfach immer gedacht, dass …«
Aber insgeheim hatte Tahn stets gehofft, dass der Wandel die Kindheit wiederherstellen würde, an die er sich nicht erinnern konnte, und ihm die Geheimnisse der Worte, die zu sprechen er gezwungen war, wann immer er seinen Bogen spannte, und das Gesicht des Mannes in seinen Träumen enthüllen würde, und auch – obwohl ihm das Angst machte – die Stimme, die ihm bisweilen antwortete, wenn er sich erhob, um den nächsten Sonnenaufgang zu beobachten, eine Stimme, die in väterlichem Tonfall sprach. Der Wandel war die einzig echte, letzte
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