Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
schloss er die Tür. Als er sich wieder umdrehte, hatte Mira sich bereits auf dem Stuhl am Fenster niedergelassen und ihr ölgetränktes Tuch hervorgezogen, um ihre Klingen zu reinigen. Während sie sich daranmachte, eines ihrer Schwerter abzuwischen, nahm Tahn den Bogen von der Schulter, legte den Umhang ab und warf ihn über das Fußende des Bettes.
Vor dem Fenster zuckten immer noch Blitze durch die Dunkelheit im Norden. Windböen schüttelten die Dachtraufe und schrillten wie dünne Rohrpfeifen. Eine einzige Lampe stand auf dem Tisch, aber der Docht war schon so weit heruntergebrannt, dass das Öl die Flamme zu löschen drohte.
Tahn drehte den Docht höher, so dass es im Zimmer heller wurde, und hielt die Hände näher ans Glas, um sie zu wärmen. Dann setzte er sich neben seinen Umhang und sah die Fern an. Mira schien ihn gar nicht zu beachten, sondern fuhr gleichmäßig mit dem Lappen über die Klinge ihrer Waffe, in der sich die Flamme spiegelte.
Fragen wirbelten Tahn durch den Kopf, Dinge, die er gern gefragt hätte, ohne es zu wagen: Wie viel von alledem wusste sie von Anfang an? Dachte sie, dass es für einen Jungen aus Helligtal und ein Fernmädchen möglich wäre …
Tahn betrachtete sie im Lampenlicht. Anders als die Frauen in Helligtal es taten, wenn der Frühling in voller Blüte stand, trug sie keine zarte Bluse, deren eckiger Ausschnitt den Busen umrahmte. Miras Umhang war weiterhin an ihrem Hals festgesteckt, und die grauen Falten fielen wie ein Wasserfall um ihren Stuhl hinab bis auf den Boden. Keine Schminke färbte ihre Lippen oder Augen. Aber das Leuchten der Flamme berührte sanft ihre Haut und verlieh ihr trotz ihrer entschlossenen Miene Wärme. Die weißen Blitze, die den Himmel durchzuckten, stachen davon ab und beleuchteten ihr Gesicht für kurze Augenblicke grell.
»Brennt dir etwas auf der Seele?«, fragte sie und drehte ihre Klinge hin und her, um beide Schneiden zu überprüfen.
Tahn suchte nach Worten. »Ich weiß nicht. Ja.«
»Dann solltest du es sagen, damit du keinen Schlaf mit der Frage danach verschwendest, ob ich antworten werde.«
»Nun gut. Ich habe Helligtal verlassen, weil ich dachte, dass meine Anwesenheit dort das Dorf gefährden würde. Ich weiß jetzt, dass die Bar’dyn und Velle Jagd auf mich machen. Aber ich weiß nicht, warum.« Durch seine eigenen Worte kühner geworden, beugte er sich zu ihr. »Und ich erfahre nur dann etwas über diesen Fels der Erneuerung, wenn ich höre, wie Vendanji jemand anderem davon erzählt. Er könnte mich mit einer Handbewegung töten, aber – beim Namen meines Vaters! – ich bin es leid, der Letzte zu sein, der erfährt, worum es eigentlich geht!«
Mira schob ein Schwert in die Scheide und zog das andere. Ohne aufzusehen, sagte sie: »Die Antwort darauf muss ich dir doch nicht erst geben, oder?«
Tahns Schwung verebbte. Er richtete sich wieder auf. Nachdenklich berührte er das Mal auf seinem Handrücken. »Warum ich?«, fragte er schließlich.
»Wird dir das die Sache leichter machen?«, fragte Mira und legte ihr ölgetränktes Tuch zusammen.
Tahn ballte die Hand zur Faust. »Würde es dir nicht auch so gehen?«
Mira arbeitete weiter. »Nein.«
»Na, wie schön für dich!«, schimpfte Tahn. »Du bist ja auch eine Fern. Selbstsicher! Schnell!«
»Nicht so laut«, sagte Mira ruhig. »Andere versuchen zu schlafen.«
»Weißt du es etwa nicht?«, fragte Tahn mit einigem Ingrimm. »Bist du auch nur eine Marionette?«
Mira setzte ihre sorgfältige Reinigung der Waffe fort. »Wir sind alle Marionetten, Tahn«, sagte sie.
Tahn hatte das Gefühl, dass Miras Worte auch für sie selbst eine persönliche Bedeutung haben mochten.
»Und doch«, fuhr sie fort, »steht das Ziel nicht immer von Anfang an fest. Besonders für eine Marionette nicht. Sei froh, dass dein Leben dir die Zeit lassen wird festzustellen, dass dein Weg auch wirklich der deine ist.«
»Das ist noch so etwas«, entgegnete Tahn. »Ich bin die Rätsel leid. Sag mir, warum du das sagst. Sag mir, warum ich hier bin. Wenn ich mich dem Tillinghast stellen soll, habe ich das Recht zu erfahren, warum ich es tun muss und nicht irgendjemand anders.« Ihm versagte vor Aufregung fast die Stimme.
Mira hörte auf, ihre Klingen zu reinigen, und sah ihn mitfühlend an. »Ich kenne nicht alle Antworten, die du suchst, Tahn, und selbst wenn ich sie wüsste, glaube ich nicht, dass dir leichter ums Herz wäre, wenn du sie von mir hören würdest. Aber was ich tun kann, ist, dir
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