Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
und Grasflächen in Helligtal ein ganzes Leben voll offenbarter Wahrheit wäre.« Er wandte den Kopf und sah Tahn an. »So etwas pflegte er zu sagen, wenn ich es nicht abwarten konnte, dass Ogea kam, um die alten Geschichten zu erzählen, oder wenn ich vor lauter Wissbegierde unverschämt wurde. Und einmal«, fuhr der Sodale fort und schloss die Augen, als ob er sich so vor seinen eigenen Worten beschirmen könnte, »als ich die Klinge zu verstehen versuchte, setzte er sich mit mir hin, um eine Wildrose zu betrachten, während sie sich den ersten Lichtstrahlen des Tages öffnete. Als die Nacht noch alles fest im Griff hatte, weckte er mich auf, und wir gingen im Laternenschein hinaus und setzten uns ins nasse Gras vor den wilden Busch. Ich erinnere mich an den Gesang der Vögel, die den Morgen verkündeten, daran, wie der Rauch aus den Schornsteinen aufstieg, unter denen eben erst die Morgenbrotfeuer entzündet worden waren. Ich zitterte, bis die Sonne hoch genug aufstieg, um die Umgebung unseres Brunnens zu beleuchten. Aber selbst dann noch blieb die Rose geschlossen. Erst am späten Vormittag öffneten sich ihre Blüten, um die Sonne zu begrüßen.« Braethen öffnete die Augen. »Ich weiß nicht, ob ich gelernt habe, was A’Posian mir mit solchen Lektionen beibringen wollte, Tahn, denn alles, woran ich denken kann, ist, dass die Zeit, die uns zur Verfügung steht, entsetzlich kurz ist. Hierin liegt Wissen.« Er stemmte sein Buch hoch und legte es sich dann wieder auf den Schoß. »Aber ich scheine ihm nicht das zu entnehmen, was nötig ist. Und jedes Mal, wenn ich zum Schwert greife, habe ich Angst, verschlungen zu werden. Es öffnet …«
Tahn legte Braethen die Hand auf den Arm. »Später wirst du besser verstehen, was ich gleich sagen werde, aber tröste dich für den Augenblick damit, dass dein Vater ein anständiges Leben führt. Ich weiß, dass er wollte, dass du Autor wirst, und auch, dass dein Traum, Sodale zu werden, zu Spannungen zwischen euch geführt hat, aber diese Augenblicke mit den Blüten, Braethen … du hast Glück, dass dir dieser Mann von der Wiege an den Rücken gestärkt hat, finde ich. Ich weiß, dass es dir deshalb leichterfällt, hier zu sein, fern von Helligtal.«
Braethen sagte: »In der Tat, mein Freund, aber ich verfüge weder über Sutters Kampfesdurst noch über die Geduld, die dir eigen zu sein scheint.«
»Geduld?«
»Ich habe gesehen, wie du deinen Bogen spannst, Tahn – so als ob viel vom Ergebnis deines Schusses abhängt. Das scheint eine wohlüberlegte …«
Tahn hob die Hand. »Es liegt mehr Unentschlossenheit als Überlegung in meinen Taten, Braethen, und sieh dir doch an, was sie mir eingebracht hat.« Er wies auf Wendra. »Und in meinem eigenen Leben ist alles auf den Kopf gestellt …«
Der Sodale blickte zu Tahns Schwester hinüber und bemerkte dann: »Familienbande sind stärker als Schmerz.«
Angesichts dessen sah Tahn ihn mit ausdruckslosen Augen an, in denen gleichwohl etwas Tiefgründiges zu liegen schien. Kurz darauf trat ein gequältes Stirnrunzeln auf sein Gesicht, das Braethen aus irgendeinem Grund daran erinnerte, wie er damals den Pokal seines Vaters zerbrochen hatte.
Am Ende blinzelte Tahn und richtete den Blick auf Braethen, konzentrierte sich auf das, was einen anderen belastete – das war die Eigenschaft, die Braethen immer am besten an ihm gefallen hatte. Er sah auf das Buch auf Braethens Schoß hinab. »Vielleicht liest du nicht die richtigen Geschichten?«, schlug er vor. »Was genau hoffst du zu finden?«
Der Sodale hob den Finger aus dem Buch. »Ich bin mir nicht sicher. Ich versuche, etwas über die Erneuerung herauszufinden, aber das meiste davon ist in Rätseln verhüllt oder in uralten Sprachen geschrieben, die ich nicht entziffern kann. Der Sheson gibt mir nur wenige Hinweise.«
Tahn lachte leise. »Er ist eben begabt darin, ausweichend zu sein.«
Dann erinnerte sich Braethen an den Tag, an dem Ogea endlich in Helligtal eingetroffen war, daran, wie der Vorleser langsam die Leiter an Hambleys Taverne hinaufgestiegen war. Der alte Mann hatte das Siegel einer Schriftrolle aufgebrochen und aus der Erinnerung die Worte rezitiert, von denen alle angenommen hatten, dass sie auf dem Pergament niedergeschrieben wären. Größtenteils an sich selbst gewandt, sagte Braethen: »Was ist mit der Geschichte, die Ogea zum letzten Nordsonnfest erzählt hat?«
»Was besagt sie?«, fragte Tahn.
Braethen legte eine Hand auf die Tasche an seiner
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