Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
einer anderen Bergkette, die gerade noch über die umgestürzten Nebelbäume hinweg zu sehen waren. »Und wo diese Erde ein Ende nimmt, liegt der Tillinghast, der Fels der Erneuerung, hinter dem es nur Leere gibt, die Nebel der Erneuerung, die vor Wandlungen der zahllosen Leben und Entscheidungen überquellen. Es ist ein Kessel des Atems, der Forsa, ein Spiegel, um uns zu helfen, einen Blick hinter unsere eigene Maske zu werfen.« Vendanji hob die Arme zum Himmel und ballte die Fäuste, als wollte er etwas damit ergreifen.
Tahn ertastete die Umrisse der Narbe auf seinem Handrücken, die so sehr einem Hammer glich.
»Wir kommen mit unseren kleinlichen Streitigkeiten, unserem Unwillen, und wenn wir die Nebel auf den Zungen schmecken, werden sie zu einer Geißel, die uns zu vernichten droht – oder wir werden uns sogar wünschen , vernichtet zu werden, wenn der Tillinghast uns unser wahres Selbst zeigt.« Vendanji stand eine Weile reglos da. Dann trat er leise näher an Tahn heran und flüsterte ihm zu: »Straf mich Lügen. Sei am Tillinghast standhaft.«
Tief in seinem Innern spürte Tahn Hoffnung aufkeimen. Genau das wollte er unbedingt.
Er wandte sich zu Sutter um. Sein Freund war bleich, als hätte er einen Geist gesehen, die Penaebra eines verlorenen Lebens.
Was hat er gesehen?
Sie wanderten weiter, und als sie sich einer schmalen Felsspalte am gegenüberliegenden Ende des Tals näherten, verschwand die Sonne hinter den Bergen in ihrem Rücken, so dass alles in blauen Schatten versank. Mit ihnen breitete sich eine übernatürliche Stille aus: Da keine Grillen zirpten, keine Lerchen auf dem Weg zu ihren Nestern sangen, klang jeder Schritt besonders laut. Sutter entzündete ein Feuer, um die Kälte zu vertreiben.
Aber bevor Tahn dorthin gehen konnte, trieb Grant ihn bei einem umgestürzten Nebelbaum in die Enge. »Ich weiß, dass du mir nicht zuhören willst, aber tu es dieses eine Mal, auch wenn du es sonst nie wieder möchtest. Bitte.«
Es war das erste Mal, dass Tahn den Verbannten dieses Wort benutzen hörte. Das Flehen, das darin lag, erweichte Tahn genug, um ihn nicken zu lassen.
»Ich bin nicht nach Decalam oder mit dem Sheson gekommen, um dich um ein Wiedersehen anzubetteln, Tahn. Ich will ehrlich zu dir sein: Ich weiß nicht, ob irgendetwas, das wir tun können, den Verlauf dessen aufhalten wird, was in unserer Welt begonnen hat. Ich sitze tagtäglich inmitten all dessen, und manchmal glaube ich, dass die Stille schon gekommen ist und wir nur das Echo unseres eigenen Todeskampfs hören. Die dunklen Dichter sagen, dass wir nicht mehr als wandelnde Erde, aufrechter Staub und unwissend vergeudeter Atem sind.«
Tahn erinnerte sich sofort daran, dass er diese Worte von der Kreatur in der Wildnis von Steinsberg gehört hatte. Er hatte damals schon gedacht, dass sie ihm vertraut vorkamen. Jetzt wusste er dank seines wiederhergestellten Gedächtnisses, wo er sie zuerst gehört hatte.
»Es gibt Tage«, fuhr Grant fort, »an denen ich das halb glaube. Aber …« Er hielt inne und suchte nach Worten. »Aber ganz gleich, was du am Ende von mir hältst oder für mich empfindest, ich will, dass du – besonders, da du zum Fels der Erneuerung gehst – erfährst, dass deine Mutter und ich stolz auf dich sind. Sie hat dich lieb, Tahn. Ihr Schmerz, als wir uns den Plan haben einfallen lassen, dich vor neugierigen Augen zu verbergen, hätte sie fast umgebracht, und was mich betrifft, hätte ich lieber ein Todesurteil hingenommen, als in die Verbannung im Mal zu gehen. Aber wir wollten dir die Hoffnung auf ein gutes Leben schenken, und ich wollte dir die nötige körperliche und innerliche Stärke anerziehen, dich dem Fels der Erneuerung zu stellen, falls es denn dazu kommen würde …« Er legte Tahn die Hand auf die Schulter. »Ich weiß jetzt, dass du zu allem geworden bist, was wir uns je erhoffen konnten. Die Zukunft mag schwarz sein und dich oder sogar die ganze Menschenwelt zerstören. Ich weiß es nicht. Aber bis zu diesem Moment, hier und jetzt, hätte man nicht mehr von dir verlangen können. Und ob nun die Stille kommt oder vielerlei Stimmen, Tahn, ich stehe mit allem, was ich geben kann, hinter dir … mit allem.« Damit zog er die Hand zurück und ließ Tahn ohne ein weiteres Wort oder einen Blick stehen.
Tahn wusste nicht, was er empfinden sollte, aber er sah etwas, das er zuvor noch nicht gesehen hatte, weil Grant dieses eine Mal nicht seine Kampfhandschuhe trug: eine Narbe auf seinem linken
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