Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
halten, ohne etwas über seine Insassen zu wissen.« Zorn loderte auf, und Zephora stieß die nächsten Worte mit glutheißem Atem hervor: »Und wir sind es mittlerweile leid! Das Geschwätz all dieser Generationen facht unsere Leidenschaft für die Stille weiter an. Wir werden die Fesseln nicht länger dulden, die uns angelegt worden sind, weil …« Die Worte der Kreatur verkamen zu einem qualvollen Brüllen. »Macht euch bereit!«
Als die Falten von Zephoras Umhang sich aufzufächern begannen und er die Arme ausstreckte, um irgendeinen Bann zu wirken, senkte Vendanji die Handgelenke und krümmte die Handflächen. Licht blitzte in den Händen des Sheson auf und wurde rasch heller. Der Bergpass wurde erleuchtet, als würde er von zwei Sonnen beschienen, und dann führte Vendanji auf einmal beide Hände zusammen und ballte sie zu Fäusten. Licht brach zwischen seinen Fingern hervor und schoss auf Zephora zu, drang aus den Händen des Willenslenkers wie Sonnenstrahlen durch eine düstere Wolke.
Der Angriff schleuderte Zephora zurück, aber nur für kurze Zeit. Die Lichtstrahlen begannen, einen Bogen um ihn zu machen, als wollten oder könnten sie ihn nicht länger berühren. In den Tiefen von Zephoras Kapuze meinte Tahn ein finsteres Lächeln zu erspähen.
Vendanji packte Mira an der Schulter, zog sie grob zu sich heran und sah ihr in die Augen, sagte aber nichts. Die Fern nick te, als würde sie etwas Unausgesprochenes hören. Sie stürmte an Vendanji und Grant vorbei und packte Tahn. »Komm!«, befahl sie.
Tahn zögerte nicht, Mira zu folgen, als sie zur gegenüberliegenden Seite des Passes rannte. Er machte lange Schritte, damit sie nicht auf ihn warten musste. Als sie drüben angekommen waren, sah Tahn sich um und erkannte, dass die anderen sich zwischen ihn und Zephora stellten. Er beobachtete, dass der dunkle Draethmorte keinen übereilten oder machtvollen Gegenschlag führte – keine Flammen, kein Erdbeben. Stattdessen öffnete der Flüchtling aus dem Born langsam und mit einem düster betörenden Lächeln die Arme, als wollte er sie alle an seine Brust ziehen – und mit dieser anmutigen Gebärde senkte sich eine kalte Stille über den Pass, ließ alle Geräusche verstummen und ersetzte sie durch unbeschreibliche Traurigkeit, eine mörderische Seelenqual, die Tahn gründlicher frieren ließ, als Regen oder Eis es je vermocht hatten. Sie ließ ihn stocksteif stehen bleiben. Sie lastete auf allem, schien Stein und Sand niederzudrücken, die Luft zu beschweren und den Herzen bittere Galle einzuflößen. Zephora wirkte diesen Augenblick der Bosheit und Zerstörung beinahe liebevoll, fast wie eine Mutter, die ihr schlafendes Kind betrachtet, als wäre dies das reinste, kraftvollste Gefühl und Bedürfnis der Kreatur.
Ein Tod durch Stille …
Der Moment zog sich in die Länge und drohte, sie alle vollkommen zu verschlingen, bis plötzlich ein triumphierender Schrei das Schweigen durchschnitt: »Ich bin ich!« Der volltönende Ruf stammte von Braethens Lippen und brach in die Totenstille hervor wie das erste Morgenlicht, so dass Tahn vor Hoffnung ein Schauer über den Rücken lief. Der Bann war gebrochen: Mira riss ihn vorwärts, und sie rannten bergauf. Tahn wurde mit plötzlichem Entsetzen bewusst, dass sie ihn zum Tillinghast führte.
Während sie über Sternenschatten und Steine rasten, warf Tahn über die Schulter einen Blick zurück auf das, was sich am Rande des Passes abspielte. Wendras Kopf zuckte hin und her, während sie zurückwich und versuchte, ihrer verletzten Kehle hörbare Töne abzuringen. Tahn fragte sich, ob es das letzte Mal war, dass er sie je sah, und wünschte sich, er hätte doch noch einmal versucht, mit ihr zu reden. Grant und Braethen tänzelten nahe an Zephora heran und versuchten, den Stilletreuen durch ihren Doppelangriff zu verwirren und unschädlich zu machen. Mit einer beiläufigen Handbewegung schleuderte Zephora sie beide über den unebenen Boden wie Vogelscheuchen, die eine herbstliche Windböe umgerissen hatte.
Vendanji warf einen Blick den Berg hinauf zu Tahn, bevor er ruhig eine Handfläche zur Erde drehte und sich die Finger der anderen Hand gespreizt auf die Brust legte. Im nächsten Augenblick schien der Fels selbst zum Leben zu erwachen, mit scharfen Zungen an Zephora zu lecken und ihn mit unbarmherzigen Fäusten zu packen. Eine schlug nach der Brust des Stilletreuen, bevor Zephora sich auf ein Knie niederließ und eine knochige Hand in den harten Boden rammte. Mit
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