Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
Handrücken in der Form eines Hammers oder Schlegels. Das Bild ließ Tahns geplagten Verstand ahnen, dass noch mehr Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem Verbannten bestanden, aber er verdrängte sie vorerst. Jetzt, so nahe am Fels der Erneuerung, konnte er nicht mehr ertragen.
Der Verbannte ging zum Feuer, um sich zu wärmen.
Vendanji starrte Tahn an; Flammen flackerten in seinen stahlhart blickenden Augen. Er strich sich über den Bart und begann zu sprechen: »Morgen werden wir zum Tillinghast gelangen. Ihr müsst vorbereitet sein.«
Tahn glaubte, dass der Sheson sich zwar an alle wandte, aber ganz besonders ihn meinte.
»In der Morgendämmerung werdet ihr den Ort erreichen, an dem Forda und Forsa sich begegnen, Ars und Arsa. Es ist ein Ort absoluter Macht, absoluter Möglichkeiten … zumindest jetzt noch. Am Tillinghast gelten keine Ausflüchte, Tahn. Er steht zwar für das schönste und machtvollste Geschenk, das den Menschen im Leben gegeben ist, aber er ist dir und deinen Hoffnungen gegenüber gleichgültig. Achte darauf, dich vollkommen aufrichtig zu verhalten.« Dann sah der Sheson Tahn so tief in die Augen, dass er abermals vermutete, dass der Willenslenker seine geheimen Gedanken lesen konnte. Während er ihn noch ansah, fuhr er in sanfterem Ton fort: »Dir wird alles wiedergegeben werden, was du getan hast, alles, was du bist. Du hast den Schild der Melura, um dich für die meisten deiner Jahre zu verantworten, aber wir sind nicht rasch genug hierhergekommen, um dir vollständigen Schutz zu verleihen, und er würde ohnehin nicht ausreichen. Obwohl du vor deinem Einstand für nichts zur Verantwortung gezogen werden kannst, müssen dir diese Dinge zurückgegeben werden – jeder Zweifel, jeder böse Gedanke. Das wird schmerzlich genug sein. Die indirekten Auswirkungen deiner Bosheiten und deines Unfugs sind etwas, das du nicht abstreiten kannst, und du wirst sie sehen und spüren, musst dich dazu bekennen.«
Jetzt verstand Tahn, warum der Sheson ihm das Gedächtnis zurückgegeben hatte: wenn er es nicht getan hätte, hätte der Tillinghast dafür gesorgt. Das Entsetzen, das Tahn dort darüber empfunden hätte, wäre ihnen vielleicht allen zum Verhängnis geworden.
»Aber die Erneuerung ist mehr als Erinnerung«, erklärte Vendanji, »mehr als eine Waage, um Würdigkeit oder Wert zu bemessen. Die Erneuerung wird benennen, wer du geworden bist, wer du sein kannst. Darum geht es uns«, erläuterte der Sheson weiter, »das ist der Zweck all der Nächte, die du fern von deinen Himmeln über Helligtal verbracht hast. Das ist die Bedeutung, die in deinem Sonnenaufgang liegt.«
Es verwirrte Tahn zu erfahren, dass der Sheson über Tahns Morgenwacht Bescheid wusste, und zugleich zu spüren, dass Vendanji auch nicht besser als er selbst erklären konnte, warum er gezwungen war, Zeuge der Geburt jeder neuen Dämmerung zu werden.
»Wir haben die Zerstörung dessen gesehen, was wir einst für zeitlos gehalten haben. Beim Herkommen haben wir erfahren, dass die Bedrohung allen gilt, vom einfachsten Grashalm« – Vendanji warf einen Blick auf Braethen – »bis zur größten unserer Nationen. Der Weiße ist ruhelos. Sein Einfluss weitet sich aus, und das auf unseren eigenen Wunsch hin. Gegen seine zahllosen Legionen und seine Kunstfertigkeit im Lenken des Willens sind wir unbedeutend. Und doch hat er versucht, unsere Absichten zu vereiteln. Warum? Weil er jeden fürchtet, den er nicht versklaven kann.« Vendanji kniff die Augen zusammen und verlieh seinen Worten Nachdruck: »Du wirst morgen am Fels der Erneuerung deinen Bogen spannen, Tahn, um herauszufinden, ob du auserwählt bist, Quietus weiterhin Widerstand zu leisten und – beim Himmel und Allwillen! – Quietus selbst die Stirn zu bieten, wenn die Zeit gekommen ist.« Noch leiser fügte der Sheson hinzu: »Das ist die letztgültige Antwort auf deine Frage, wozu wir aufgebrochen sind.«
Die Enthüllung brach über Tahn herein und verschlug ihm den Atem. Teure Väter, sie wollen, dass ich mich dem Weißen entgegenstelle! Er versuchte zu sprechen und konnte es nicht. Er sah Sutter an, auf dessen Gesicht ein Ausdruck schierer Fassungslosigkeit lag. Dann musterte Tahn jeden einzelnen seiner Gefährten und wusste selbst nicht, wonach er dabei Ausschau hielt, aber hatte das Gefühl, sich an irgendetwas, irgendjemandem festhalten zu müssen.
Da kam in der Felsspalte heftiger Wind auf und gellte durch die Nachtluft: »Wann sagst du dem Jungen die Wahrheit, Sheson?
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