Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
fruchtbaren Boden. »Leb wohl, Kleines«, sagte er. »Obwohl wir dich nicht gekannt haben, gehst du geliebt ins nächste Leben.«
Dann nahm Vendanji sein Messer, suchte die Schlange, schnitt ihr den Kopf ab und steckte ihn sich in die Tasche. Er sammelte auch ein Stück der Kinderdecke wieder auf, das sie abgerissen hatten, bevor sie das Mädchen begraben hatten: den Teil, der einen kleinen Blutfleck aufwies.
Diese Pfänder behielt er und ließ das Kind ruhen.
Gegen Mittag passierten sie den äußeren Rand des Mals und spürten das kühle Raunen einer Brise in den Bäumen und im Unterholz. Bisher war Braethen nie auf den Gedanken gekommen, dass das Leben etwas sein könnte, was man riechen konnte, aber nun sog er tief den Duft nach Rinde, Nadeln, herabgefallenen Blättern und feuchter Erde ein. Mira ritt als Kundschafterin voraus und ließ Braethen mit seinen beiden stummen Gefährten allein. An einem Bach rasteten sie und aßen zu Mittag, ohne etwas zu sagen.
Sie ritten schnell weiter und machten in der Dämmerung wieder halt, als ein großer Mond aufging.
Braethen wandte den Blick zum Himmel und dachte an Tahn, Sutter und Wendra. In Helligtal wäre er früher oder später Autor geworden. Sein Vater A’Posian hatte ihm sicheres Wissen aus seltenen Texten beigebracht, und mit dieser Ausbildung hätte er ihnen gedient.
Sie aber nicht beschützt.
Damals war er kein Sodale gewesen, das wusste er jetzt. Er hatte nichts verteidigt, bis auf die Bibliothek seines Vaters.
Aber jetzt war ihm das Schwert eines Sodalen anvertraut worden, und das von einem Mitglied des Sheson-Ordens, zu dessen Schutz die Sodalität einst gegründet worden war. Die Klinge auf seinem Emblem und der Federkiel, der daran entlangtanzte, waren für ihn stets nur eine Metapher gewesen, obwohl er Bruchstücke der Geschichtsbücher und Legenden gelesen hatte, die Autoren seit Generationen verfasst hatten. In Helligtal hätte er vielleicht nie erfahren, was dieses Zeichen in Wirklichkeit bedeutete.
Braethen ließ die Hand auf den Stahl sinken, der von seinem Gürtel hing. Die Berührung löste immer noch viele Gefühle in ihm aus: Stolz, Kampfbereitschaft, Verteidigungswillen; Abscheu vor dem, wozu ein Schwert diente; Verzweiflung darüber, dass die Waffe von Mal zu Mal bequemer in seiner Hand lag, wenn er das perfekt austarierte Gewicht anhob.
Braethen warf einen verstohlenen Blick auf die beiden dunklen Gestalten, die ihn aus dem Mal herausgeführt hatten. Vendanji und Grant saßen nahe beieinander und führten ein vertrauliches Gespräch. Im Mondlicht hoben sie sich düster von der schwarzen Landschaft ab, die sich vor ihnen erstreckte: Zwei gleichermaßen undurchschaubare Geschichten saßen Seite an Seite. In ihrer Rätselhaftigkeit kamen die beiden Männer Braethen wie das Reimpaar einer Prophezeiung vor. Der Ged anke ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen, weil seine eigene Geschichte nun unentwirrbar mit ihrer verknüpft war.
Am Ende konnte Braethen sich nicht mehr davon abhalten zu fragen: »Warum fasst du die Charta neu ab?«
Grant wandte sich in der Dunkelheit um. »Weil ich des Kämpfens müde bin.«
Braethen erinnerte sich an die Waffenhalterungen in Grants Haus. »Warum bringst du es dann den Kindern bei, die bei dir leben?«
»Weil ich weiß, dass sie früher oder später darauf angewiesen sein werden. Ich habe viel Zeit, um nachzudenken, Sodale. Viel Zeit, über die Arten nachzugrübeln, auf die ein Mann zornig die Hände gegen einen erheben kann. Tage und Jahre, meine Mündel und mich selbst zu lehren, dass die eigene Freiheit etwas ist, das man schützen muss, selbst auf die Gefahr hin, dabei körperlichen Schaden zu nehmen.« Grant stellte sein Abendessen auf einen umgestürzten Baumstamm und machte es sich, den Rücken an das Holz gelehnt, gemütlich. »Ich bin vorbereitet , mein Freund. Tausend Tage lang habe ich Schläge und Gegenschläge eines Kampfs nach dem anderen durchgespielt. Unterschiedliche Waffen, verschiedene Gegner ungleicher Größe und Befähigung. Ich habe mir das Gelände ausgemalt, auf dem Schlachten toben könnten, und Verwundungen – meine eigenen ebenso wie die meiner Gegner – mit einberechnet. Alles hier oben.« Er klopfte sich zweimal leicht an die Schläfe. »Und als mir nichts mehr eingefallen ist, habe ich von neuem darüber nachgedacht, und dann noch einmal, habe mir jedes Mal die Ergebnisse vor Augen geführt, den Grad der Tüchtigkeit meines Gegners verändert und seinen
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