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Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Titel: Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Orullian
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Jedes Mal, wenn der Schatten eines Männerkopfes das Rechteck aus Licht verdüsterte, verlor Tahn ein wenig mehr Hoffnung. Jetzt sah er schon nicht mehr auf, wenn er Stiefeltritte hinter der Tür hörte. Die Augenblicke zogen sich in die Länge wie ganze Tage. Von Dunkelheit umfangen und niedergeschlagen von den Bewohnern einer fremden Stadt, die ganz erpicht darauf waren zuzusehen, wie jemand gehenkt wurde, fühlte sich Tahn, als würde er in einer Falle sitzen, aus der es kein Entrinnen gab.
    Auch seine eigenen verworrenen Gedanken sperrten ihn ein. Er versuchte, sich an Augenblicke der Freiheit und des Glücks zu erinnern: Jagden tief im Helligwald, das Schwimmen im Steinbruch mit Sutter, während die kleinen Wellen, die das Wasser schlug, im Sonnenlicht funkelten, und Wendra beim Äpfelschneiden für einen süßen Kuchen, den sie mit Traubenmarmelade und Gewürzen abrunden würde. Aber jede Erinnerung verdüsterte und verzerrte sich, wurde zu Asche, die von einem brennenden Berg auf einen bewaldeten Hang herabregnete, zu kaltem Wasser, das im mörderischen Griff eines Fährtenlesers in Tahns Lunge strömte, oder zu dem Bar’dyn, der Wendras totes Neugeborenes festhielt, während Tahn unfähig war, das Monster aufzuhalten …
    All dies gab Tahn am Ende – zumindest für eine Weile – der heiteren Ruhe der Schwärze anheim, der Stille, die ihn umfing.
    Bis auf Wendra. Sein Versagen an Wendra.
    Zwischen ihnen hatte schon immer ein besonderes Band bestanden. Sie waren Bruder und Schwester, ja, aber zugleich mehr als das. Freunde. Echte Freunde. Was Tahn für sie tat, geschah nicht einfach aus der Verpflichtung der Blutsbande heraus, sondern aus aufrichtiger Zuneigung und Besorgnis. So war es. Und ihrerseits hatte Wendra nie auch nur eine der kleinen Seltsamkeiten hinterfragt, die sie sicher in ihm sah. Wenn seine Träume ihn gequält hatten, war es der sanfte Klang ihrer Stimme gewesen, der seine Gedanken in dunklen Nachtstunden beruhigt und ihm aufs Neue Frieden geschenkt hatte.
    Deshalb hatten die Ereignisse vor kurzem ihn so tief verletzt. Sogar hier, wo ihm so gut wie alle Gefühle und seine Würde geraubt worden waren. Aber wenigstens musste er jetzt keine Entscheidungen mehr treffen – zumindest dachte er das.
    »Kein einziges Wort in zwei Tagen. Wo sind deine Manieren, mein Sohn?« Die Stimme durchdrang die Dunkelheit, aber Tahn achtete nicht mehr darauf als auf jeden anderen Fiebertraum seines Verstands.
    Wieder ertönte die Stimme: »Wir beiden sind allein hier, also musst du doch wissen, dass ich mit dir spreche.«
    Tahn hob den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, die so ruhig und voller Geduld und Klarheit sprach.
    »Du hast auch nicht mit mir gesprochen«, sagte Tahn und versuchte, an dem Lichtkegel vorbeizuspähen, um den Mann zu sehen.
    »Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme«, erwiderte die körperlose Stimme. »Der Rat hat schon vorher Spitzel und Spione hergeschickt, die ein paar Stunden oder vielleicht einen Tag lang deine Ketten getragen haben, in dem Glauben, dass ich mich einem von ihnen anvertrauen würde, um ihm mein Leid zu klagen, so dass sie herausfinden würden, was sie mir nicht auf anderem Wege abpressen konnten.«
    »Warum sprichst du dann jetzt mit mir?« Tahn konnte den Mann immer noch nicht sehen.
    »Weil kein Mann, der freiwillig hier war, jemals so lange geblieben ist wie du.« Tahn hörte die Ketten des Mannes rasseln, als ob er seine Sitzhaltung veränderte. »Die Dunkelheit macht ihnen zu schaffen, und sie rufen danach, freigelassen zu werden.« Der Mann lachte leise in der Dunkelheit. »Mein Schweigen verstört sie. Was für Flüche ich schon von Menschen gehört habe, zu denen ich nie ein Wort gesagt hatte!« Tahn hörte noch ein leises Lachen.
    »Also hast du beschlossen, mir zu vertrauen, weil ich seit zwei Tagen hier bin?«, fragte Tahn ungläubig.
    »Ich habe nicht gesagt, dass ich dir vertraue.« Der Tonfall des Mannes veränderte sich, wurde ausdruckslos und klar. »Dass ich mein Schweigen gebrochen habe, heißt nicht, dass ich mich mit dir verbrüdern will. Aber jemand, der so zusammengeschlagen worden ist wie du … Ich wüsste gern, welches Verbrechen die Stadtwache von Decalam dazu bewogen hat, mit solcher Begeisterung über dich herzufallen. Selbst ich habe nicht so viel erlitten, als ich hierhergekommen bin.« Wieder hörte Tahn die Ketten rasseln und stellte sich vor, dass der Mann den Arm hob, um auf die Zelle zu deuten, die sie miteinander

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