Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
Lichtkegel zwischen ihnen hindurchzuspähen. Das fahle Leuchten war ihm noch nie so hell vorgekommen. »Tahn«, sagte er. »Tahn Junell. Mein Vater hieß Balatin Junell. Er ist erst vor drei Jahren gestorben.«
»Und du hast Vendanji seit dem Male Siriptus nicht mehr gesehen?«
»Nein«, antwortete Tahn. »Aber ich habe gehört, wie er uns zugerufen hat, dass wir uns in Decalam wiedertreffen sollten. Ich habe gesehen, dass sich hohe und niedere Adlige und weniger vornehmes Volk auf den Landstraßen und in den Ortschaften auf dem Weg hierher drängen.« Tahn versuchte, sich an die Wand zu lehnen, und zuckte zusammen, als er die Platzwunde an seinem Hinterkopf traf. »Es gehen Gerüchte, dass der Schatten der Hand sich geöffnet hat …« Tahn hielt kurz inne. »Aber das sind nicht bloß Gerüchte. Ich habe sie gesehen. Ich nehme an, deshalb strömen alle so panisch hierher. Ich hoffe bloß, dass die anderen unbeschadet ankommen.«
»Die Hand ist ein Sammelpunkt, Tahn, aber sie ist nicht der einzige Weg, der aus dem Born herausführt. Die Legionen der Stille bestürmen die Grenzen selbst weit im Osten beim Saeculaforst. Aber es ist das Land im Westen, das blutet, Mal’Tara, Mal’Valut, Destik’Mal, sogar Ebon, wo das Leben so nahe am Born den Mutterboden, die Luft und die Leute verdirbt. Es ist ein unwirtlicher Ort, und der Schleier, der die Dunkelheit zurückhält, ist dünn. Die Völker und Königreiche jenseits der Dividen sind für uns so gut wie verloren. Früher dienten sie als Bollwerk gegen das Krebsgeschwür des Borns. Vor nur einem Zeitalter war der Orden der Sheson dort noch stark vertreten und hat sich an dem Kampf beteiligt, der die Stilletreuen davon abhalten sollte, so ins Land vorzudringen, wie die Lul’Masi während des Krieges der Hand in unsere Welt gelangt waren.«
Jetzt hörte Tahn genau zu, und der Klang der Stimme des Mannes strich hauchzart wie ein Gebet über den verhärteten Stein.
»Aber der Argwohn derer, die dem Orden nach Westen gefolgt waren, hat sich zu Sanktionen ausgewachsen, die von der Liga durchgesetzt werden. Schwache Herrscher verfallen in Hysterie, da sie darauf erpicht sind, sich mit Seiner Führerschaft gutzustellen.« Abscheu sprach aus den Worten des Mannes. Tahn hatte den Eindruck, ein Zähneknirschen zu hören, bevor die Ruhe in die Stimme seines Gefährten zurückkehrte. »Aber das ist nicht das Wichtigste, Tahn. Die Stille des Einen wächst sogar ohne die bewusste Unterstützung der Menschen. Unsere Felder bringen mit jedem Jahr weniger hervor; die Würfe unserer Tiere und unsere Herden werden kleiner. Die Wachstumsperiode verkürzt sich; die beißende Kälte der Winterluft hält länger vor und erstickt das Werk des Hohen Lichts. Unser Land wird dem immer ähnlicher, was wir von der Welt jenseits der Bahrenberge annehmen.« Er senkte die Stimme und verlieh so dem Folgenden besondere Bedeutung: »Das Gerücht, das uns unter Druck setzt, Tahn, und die Regentin dazu bewegt, ihren gesamten Hohen Rat und das Große Mandat einzuberufen, besagt, dass der Schleier abermals dünner wird. Und in diesen wahnwitzigen Zeiten schwächt sich der Glaube an die Verse und das Lied derart ab, dass sie geradezu abgeschafft werden …«
Tahn lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er hatte diese Bezeichnungen schon gehört, aber sie hatten jetzt dieselbe Auswirkung auf ihn wie zuvor. Die bloße Erwähnung dieser Dinge erregte Scheu und Verehrung in ihm, die erschreckend und hoff nungsvoll zugleich waren. Die Worte selbst sprachen etwas tief in ihm an, etwas Entscheidendes und Entsetzliches. Er bemerkte, dass die Ketten, mit denen er gefesselt war, auf dem Steinboden klirrten, aber er konnte seine Arme nicht am Zittern hindern.
Der Mann schien es nicht zu bemerken. »Und nun zu meiner Geschichte, Tahn«, sagte er in etwas liebenswürdigerem Ton. »Ich heiße Rolen, und ich bin Sheson.«
Tahns Kopf fuhr in Rolens Richtung herum. »Sheson«, wiederholte er. »Aber dann könntest du dich doch befreien! Warum …«
»Sachte, mein Sohn. Geduld!«
Tahn hatte hundert Fragen, aber er setzte sich aufrecht hin, da er wissen wollte, wie ein Lenker gegen seinen Willen an diesem unsäglich widerwärtigen Ort festgehalten werden konnte. Ein Wachsoldat kam zur Tür, warf einen Blick zu ihnen herein und stieß einen Fluch aus, bevor er seinen Weg fortsetzte, überzeugt, dass es ihnen erbärmlich genug ging. Seine Schritte entfernten sich den Gang entlang. Tahn lauschte wie gebannt und
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