Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
Liedes, das nicht nur aus einer Richtung zu ertönen schien, sondern aus den Wänden selbst hervordrang.
»Was ist das?«, fragte Wendra, legte die Hand auf eine Säule und sah zur Decke der Vorhalle auf, in der sie standen.
»Es ist das Lied«, sagte Shanbe in einem Tonfall größerer Ehrfurcht, als Wendra ihn je zuvor bei ihm gehört hatte. Der Ta’Opin schritt ohne weitere Erklärung tiefer in die Kathedrale hinein.
Penit trabte an Wendra vorbei, um Shanbe zu folgen. Wendra blieb einen Moment lang stehen und spürte das Summen durch die Marmorsäule. Unter ihren Fingern schien der schöne Stein zu vibrieren, als ob die gesungenen Worte und die Musik tief in ihm etwas zum Leben erweckten. Sich davon zu lösen fiel ihr schwer, aber sie spürte, dass das Lied, das ihre Finger berührte und ihre Ohren nur als Wispern erreichte, von Stimmen tiefer in der Kathedrale stammte. Sie wollte es hören, jedes Wort, jeden Ton.
Von der Vorhalle gingen drei Gänge aus, die alle unter hohen Steingewölben hindurchführten und mit einigen Tischen aus Kirschholz versehen waren, auf denen silberne Urnen standen. Kunstvolle Ornamente waren direkt in die Wände gemeißelt. Die Türen waren schwer und wiesen Türfüllungen auf. Kerzen brannten in langen Röhrenwindlichtern aus Glas, tauchten die Gänge in ein behagliches Licht und behüteten die Flammen vor dem Luftzug, den laute Stimmen hervorrufen mochten. Griffe und Beschläge aus Messing wirkten wie kleine Arme und Hände, die aus dem Stein selbst hervorragten; sie waren im Laufe der Zeit nachgedunkelt. Wendras Schritte hallten hohl auf den sauberen Marmorböden wider.
Wendra schloss zu Shanbe und Penit auf, die nach links abgebogen und kurz vor einem Ölgemälde – dem ersten von vielen – stehen geblieben waren, das die Wand des Ganges zierte. Das Bild erstrahlte im warmen Schein einer Kerze und zeigte einen Mann, der ein Pergamentblatt mit der gleichen Art von Tintennoten in der Hand hielt, wie Shanbe es Wendra geschenkt hatte. Ein dünner Haarkranz umgab seinen Kopf unmittelbar oberhalb der Ohren, und er sah die Betrachter mit gütiger Geduld an. Der Mann saß auf einem bescheidenen Stuhl und trug ein langes weißes Gewand.
Shanbe blieb vor einem Gemälde nach dem anderen stehen, sagte aber nie etwas dazu, um Hintergründe zu erläutern oder auch nur Namen zu nennen. Wendra bemerkte, dass alle Porträts den gleichen geduldigen Gesichtsausdruck hatten. Manche zeigten Frauen, die im selben Stil wie die Männer gekleidet waren. Ein paar hielten Instrumente auf dem Schoß, und einige saßen entspannt mit einer Art Stab in der Hand da.
Während sie stumm den Gang entlangschritten, hatte Wendra den Eindruck, dass die Musik lauter wurde. Mit jedem Schritt wuchs ihre Erregung. Etwas an dieser Melodie fühlte sich vertraut an, obwohl sie sich sicher war, sie nie zuvor gehört zu haben.
Als sie gerade zu ergründen versuchte, woran das Lied sie erinnerte, bogen drei Frauen auf den Gang vor ihnen ein. Die mittlere trug einen dicken weißen Umhang, hatte die Kapuze hochgeschlagen und die Arme um sich geschlungen, als ob sie gegen ein Zittern ankämpfte. Rechts und links von ihr bemühten die anderen beiden sich aufmerksam um sie und stützten sie, als ob sie Angst hätten, dass sie hinfallen könnte.
Als sie näher kamen, verstellte Shanbe ihnen den Weg. »Sariah?«
Die Frau in der Mitte blickte auf. »Shanbe?« Ihre Stimme klang schwach, aber erfreut.
»Es ist gut, dich zu sehen. Als wir ankamen, hatte ich den Eindruck, dass die Leidensstimme, die wir hörten, deine sein könnte. Aber du bist gerade erst mit deinem Turnus im Lied fertiggeworden. Unser Wiedersehen kann warten, bis du dich ausgeruht hast.«
Sariah umarmte Shanbe dennoch und erlaubte es seinen starken Armen, sie für einige Augenblicke zu halten. Wendra betrachtete das Gesicht der jungen Frau, das an der Brust des Ta’Opin ruhte, und las darin eine Art Besorgnis und erschreckende Weisheit, die nicht in ein so junges Antlitz gehörten. Es war etwas, das sie aus ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit wiederzuerkennen meinte.
Dann trat Sariah schließlich zurück. »Therin singt jetzt. Er möchte dich sicher auch sehen, bevor du wieder abreist. Kannst du bleiben, bis seine Dienstzeit im Lied vorüber ist?«
»Natürlich«, sagte Shanbe. »Du hast eine schöne Stimme, Sariah, und ich habe den Übergang zwischen dir und Therin nicht einmal gehört. Gut gemacht.«
Die junge Frau lächelte, und die beiden Mädchen
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