Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
den Kopf. »Es ist keine Schande, etwas nicht zu wissen, Wendra – nur, nicht zu versuchen, es zu lernen, die Frage nie zu stellen.«
Er schlug die Stimmgabel erneut an und bat Wendra, einen höheren Ton zu singen. Dann stimmte er selbst in tieferer Tonhöhe mit ein. Der Klang erregte Wendra. Manchmal hatten in Helligtal ein paar Leute versucht, mehrstimmig zu singen, aber sie hatten nie ein Ergebnis wie dieses erzielt. Die drei Töne erklangen gemeinsam in einer Einigkeit, die Wendra noch nie gehört hatte, schienen zu einem zu verschmelzen und bildeten einen Dreiklang mit perfekt harmonisierten Intervallen. Ihr versagte die Stimme, als sie vor Ehrfurcht angesichts des wunderbaren Zusammenwirkens die Lippen verzog und das Kinn heruntersacken ließ. Belamae brachte die Stimmgabel zum Verstummen und ließ seinen eigenen Ton enden.
»Ihr seid hergekommen, um zu lernen«, sagte der Lehrer.
»Ich weiß nicht.« Wendra warf einen Blick auf die Notenständer und die vergilbten Pergamente, auf denen Noten und andere Zeichen Musik in einer Sprache festhielten, die sie nicht lesen konnte.
Belamae zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich und sah sie mit gütigen Augen durchdringend an. »Ihr verfügt über eine Begabung, Wendra, das höre ich sogar dem einzelnen Ton an, den Ihr gerade gesungen habt. Sie ist Euch zweifellos ein großer Trost und hat vermutlich Eure Freunde und Eure Familie bereits unterhalten und entzückt. Aber das, worüber Ihr verfügt, ist nicht für sie allein bestimmt.« Er zog die Augenbrauen hoch, als wollte er fragen, ob sie ihn verstand, aber Wendra schwieg weiter. »Die warme Klangfarbe einer Stimme, das Vergnügen daran, die Hände eines Musikers auf den Saiten oder an der Flöte – das alles sind Freuden, die man genießen kann, nachdem man zu Abend gegessen und Tabakkraut geraucht hat, um die Mühsal des Tages zu lindern. Aber manchen wird deutlich mehr von dieser Fähigkeit verliehen, eine herausragende Fertigkeit, die sie zu einer höheren Berufung befähigt, ja, eine höhere Berufung ist . Für diese wenigen kann diese Begabung nur durch eine sorgfältige Ausbildung Erfüllung finden. Das ist meine Aufgabe.«
»Ich kann nicht bleiben«, sprudelte es aus Wendra hervor. »Ich muss meine Freunde suchen, meinen Bruder. Es gibt Dinge …«
»Mein Kind«, begann Belamae mit unendlicher Zärtlichkeit, die von der Gewissheit langer Erfahrung noch gesteigert wurde, »macht eine Bestandsaufnahme all dessen, was Ihr wisst. Blickt in Euch hinein und fragt Euch, ob es irgendeine höhere Priorität als diese gibt.« Wendra versuchte, ihm ins Wort zu fallen, aber der Mann hob die Hände. »Psst. Hört mich an. Ich weiß, dass Euer Verstand Euch erzählt, dass dies hier selbstsüchtig, vielleicht gar unmäßig ist. Aber Ihr könnt meinem Ohr vertrauen. Was ich höre, ist mehr als eine Abfolge von Tönen. Und bei der Ausübung dieser Begabung erwartet Euch, mein Kind, mehr als das, wovon Ihr je zu träumen gewagt habt.«
Wendra hatte Fragen, aber sie stellte fest, dass sie sie nicht in Worte fassen konnte. Sie blickte sich verzweifelt um, und Gedanken an Penit, ihr totgeborenes Kind und schließlich Tahn rasten durch ihren Verstand. Sie sah sich selbst schwitzend auf dem Boden einer Höhle, sah die mit Kalk geweißten Füße von Frauen und Kindern auf dem Auktionsblock, sah die Welt als Relief aus nichts als Hell und Dunkel aufblitzen. Sie schloss die Augen, hörte die ferne Melodie des Liedes und seinen Takt und formulierte eine Frage.
»Was für eine Musik ist das, die von diesem Gebäude ausgeht? Ist es das Leidenslied?« Sie öffnete die Augen und stellte Belamae ihre Frage auch mit Blicken.
Der Lehrer ließ zu, dass ein schiefes Lächeln sein Gesicht erhellte. »Dann können wir ebenso gut damit beginnen«, antwortete er und erhob sich von seinem Stuhl. »Kommt mit.«
Belamae ging direkt zur Hintertür, öffnete sie und hielt sie Wendra so auf, wie ein Diener es vielleicht getan hätte. Er winkte sie hindurch und zog seine Arbeitszimmertür hinter ihnen zu, bevor er schnell wieder die Führung übernahm.
»Wir werden Euch gleich in einigen Dingen unterweisen.« Ganz Anmut und fließende Roben, eilte er den Gang hinab. Sein weißes Haar wippte im Takt seiner langen Schritte. Wendra musste schnell gehen, um mit dem alten Maester mitzuhalten.
Sie kamen an weiteren Ölgemälden vorbei. Viele zeigten offenbar Konzerte, Musiker inmitten von Amphitheatern voller Zuhörer. Weiter hinten stellten die
Weitere Kostenlose Bücher