Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
an ihrer Seite halfen ihr bis zu einer Tür, die, wie Wendra annahm, in Privatgemächer führte. Wendra verstand das alles nicht, aber sie zog den Schluss, dass das Lied, das sie hörte, ohne Unterlass gesungen wurde und eine Stimme immer dann, wenn sie erschöpft war, von einer neuen abgelöst wurde. Und Shanbe hatte von der »Leidensstimme« gesprochen. Konnte es sich bei dieser Melodie, die sie in der Luft und im Stein der Discantus-Kathedrale hörte, um das Leidenslied handeln?
Gerade, als sie den Mund öffnete, um danach zu fragen, deutete Shanbe auf das letzte Gemälde an diesem Ende des Gangs.
Wendra schnappte nach Luft und schlug die Hand vor den Mund, um sich zu beherrschen.
Sie kannte dieses Gesicht: das väterliche Lächeln, den geduldigen Blick. Das Antlitz ließ ihr warm ums Herz werden und machte ihr zugleich Angst. Es war das Gesicht des Mannes, der ihr erschienen war, als sie in der Höhle in der Nähe der Sedagin i m Fieber Visionen gehabt hatte. Sie hatte den Rat, den er ihr gegeben hatte, fast vergessen, den Trost, den er ihr gespendet hatte, die Unterweisungen. Ihn auf diesem Porträt zu sehen ließ die Erinnerung so greifbar werden, dass Wendra erschauerte.
Sie bezweifelte, dass es sie einfach nur geheilt hatte, das Lied ihrer Spieldose zu singen. Sogar die Ereignisse auf der Bergwiese bei Jastails Hütte waren in ihrem Verstand verschwommen. Aber in der Gegenwart der Augen, die sie aus diesem Gemälde heraus betrachteten, zog Wendra den Gedanken in Betracht, dass ihr Lied vielleicht mehr als eine bloße Melodie war, und die Bürde lastete brennend auf ihr. Das Singen war für sie immer eine Fluchtmöglichkeit und ein Quell des Trosts gewesen. Jetzt schien es, als ob es vielleicht Konsequenzen haben und die Welt um sie herum umformen könnte. Die Vorstellung verdüsterte ihre Laune. Nach allem, was sie nun schon verloren hatte, hatte dieses eine geheime Vergnügen und Andenken ihr mehr denn je bedeutet. Sie wandte mit finsterer Miene den Blick ab.
Hinter sich hörte Wendra das leise Klopfen von Fingerknöcheln an einer Tür. Als sie sich umdrehte, sah sie die Tür aufschwingen und das Gesicht des Mannes von dem Gemälde enthüllen – des Mannes aus der Höhle. Er sah an Shanbe vorbei geradewegs Wendra an.
»Ihr habt den Weg gefunden«, sagte er.
Wendra musterte ihn überrascht und argwöhnisch. Die einstudierte Miene des alten Mannes behielt ihr gütiges Lächeln bei, aber er zog eine Augenbraue hoch, als ob er ihr Misstrauen bemerkt hätte.
»Nun, Shanbe«, sagte der Mann und verlagerte seine Aufmerksamkeit auf den Ta’Opin, »es freut mich immer, dich zu sehen. Muss ich dir dafür danken, diese junge Frau wohlbehütet zu uns gebracht zu haben?«
»Ich verlange keine Gebühr dafür, Maester«, sagte Shanbe lächelnd. Er umarmte den alten Mann, der die weißgekleideten Arme um den großen Ta’Opin schlang, als würde eine Bärenmutter mit ihrem Jungen kuscheln. Der Alte war sogar noch einen halben Kopf größer als Shanbe.
Er ließ ihn wieder los und sagte dann: »Und wer ist das hier?« Er bückte sich, um Penit in die Augen zu sehen.
»Ich bin Penit. Ich werde den Lesherlauf gewinnen.«
»Stimmt das?« Der alte Mann zwinkerte. »Der selbstbewusste Ton gefällt mir. Nun, dann bist du jedenfalls gerade noch rechtzeitig angekommen: Das Rennen findet morgen statt.« Der Maester warf einen kurzen Blick auf Wendra. »Und du bist mit Wendra gekommen, nicht wahr?«
Penit sah sie seinerseits an. »Wir kümmern uns sozusagen umeinander. Die anderen …«
»Das reicht, Penit«, unterbrach ihn Wendra. »Wir wollen doch niemanden mit unseren Schwierigkeiten belästigen.« Sie stellte sich neben den Jungen und legte ihm den Arm um die Schultern. »Shanbe hat gesagt, dass Ihr uns vielleicht ein oder zwei Nächte hierbleiben lasst. Ich kann arbeiten, um unsere Mahlzeiten zu verdienen.«
Sowohl Shanbe als auch der Mann in der Robe bedachten Wendra mit einem verwirrten Blick.
»Ihr seid beide zu Gast hier«, sagte der alte Mann. »Ihr bleibt über Nacht und ruht Euch für Penits großes Rennen morgen aus. Ich bin Belamae. Ich unterrichte an der Discantus-Kathedrale die Kunst der Musik.« Er beobachtete Wendra genau und schien irgendeine Reaktion von ihr zu erwarten. Sie setzte vorsichtshalber eine nichtssagende Miene auf. »Wir haben viel Platz, und Ihr seid eingeladen, an der Musik teilzuhaben, der in diesen Mauern eine Stimme verliehen wird.«
»Wie ich sehe, hat man dich der Wand
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