Das Gift der alten Heimat
Abständen von wenigen Minuten und spien immer neue Massen von Schaulustigen aus, die sich nach dem Verlassen der Waggons zu Strömen zusammenballten und sich aufs Stadion zuwälzten, wo sie sich vor den vielen Eingängen stauten. Überall neben den Anmarschwegen waren Polizisten zu sehen, deren Anwesenheit davon kündete, daß der Satz der Sport diene dem Frieden, längst keine Gültigkeit mehr besitzt (falls er im Laufe der Zeiten jemals Gültigkeit besessen haben sollte).
Den rotweißen Mützen, Schals, Wimpeln und Fahnen wurde mehr und mehr Paroli geboten durch Blauschwarze – den Farben des HSV. Natürlich waren die Rotweißen in der Überzahl, aber auch die Blauschwarzen aus Hamburg reichten aus, um im rotweißen Meer nicht unterzugehen.
Karl und Willi aus Rheinstadt sahen dies alles mit blanken Augen. Ihre Erregung sprang auch über auf Paul, doch er vergaß nicht, ein Augenmerk darauf zu haben, daß ihm seine Söhne in dem Gedränge nicht abhanden kamen.
Onkel Johann sah sehr rasch ein, daß sein Vorhaben, sich das ganze Olympiagelände ein bißchen anzusehen, zum Scheitern verurteilt war. Die Menschenmenge, in der er mit den Seinen eingekeilt war, schob ihn auf das Zentrum von allem zu: das große Fußballstadion mit dem berühmten Zeltdach.
Dann hatten die vier ihre Plätze eingenommen. Die Karten waren also nicht gefälscht gewesen, der Einlaß hatte reibungslos geklappt. Paul und Johann hatten die Jungens in die Mitte genommen, sie selbst saßen außen, Paul neben Willi, Johann neben Karl. Das war sehr günstig für Johann, der sich vorgenommen hatte, mit Karl bei Gelegenheit ein Wörtchen zu reden. Zehntausende waren schon anwesend. Trompeten schallten, Sprechchöre brausten immer wieder auf, der Lärm war gewaltig und bot die Gewähr, daß Onkel Johann unbemerkt von Paul und Willi mit Karl sprechen konnte. Darauf legte er nämlich Wert. Paul und Willi hatten nur Augen und Ohren für die Vorgänge im Stadion.
»Karl«, sagte Onkel Johann, »hast du Lust, ins Gefängnis zu gehen?«
Karl lachte, er nahm das nicht ernst.
»Ich weiß was Schöneres, Onkel Johann.«
»Die sperren dich aber bald ein.«
Karl sah an Johanns Miene, daß kein Grund zum Lachen bestand.
»Wieso?« fragte er.
»Wegen Fahrens ohne Führerschein.«
Karls Gesicht übergoß sich mit Röte. Er blickte Johann an, war aber zu verlegen, um etwas zu sagen.
»Du weißt«, fuhr Onkel Johann fort, »daß die dich schon auf dem Kieker haben. Und jetzt hat dich der Polizeichef selbst wieder gesehen.«
Karl sagte immer noch nichts.
»Eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft – und du bist fertig, Karl!«
»Wenn das passiert«, stieß der Junge hervor, »haue ich ab!«
»Wohin denn?«
Die Antwort lag auf der Hand.
»Zu dir nach Amerika, Onkel Johann.«
Doch Onkel Johann schüttelte den Kopf.
»Nee, nee, mein Junge, auch in Amerika können wir keine Vorbestraften brauchen. Wenn du vielleicht mal was anderes gelesen haben solltest, so ist das Unsinn.«
Karl verstummte wieder. Johann blickte ihn an.
»Ich habe dafür gesorgt, daß die Anzeige unterbleibt.«
»Du?!«
»Niemand weiß etwas davon – nur ich und der Polizeichef!«
»Und die Eltern? Wirst du ihnen etwas sagen?«
»Nein.«
»Ehrenwort?«
»Hör mal«, grinste Johann. »Du kannst mir nicht das Messer auf die Brust setzen. Eher ich dir! Es war ein Zufall, daß ich mit dem Polizeichef ins Gespräch gekommen bin und ich die Sache noch einmal bereinigen konnte. Wenn du mir aber jetzt nicht ehrenwörtlich versicherst, daß du auf kein Motorrad mehr steigst, bis du den Führerschein gemacht hast, werde ich sehr wohl mit deinen Eltern reden. Dann würdest du auch gar nichts anderes verdienen. Also, was ist?«
Karl zögerte keinen Augenblick.
»Ehrenwort, Onkel Johann!«
»Gut, das genügt mir. Ich halte dich für einen Kerl, der sein Versprechen hält. Vergiß nicht, du warst schon mit einem Fuß im Gefängnis. ›Jugendarrest‹ heißt das, glaube ich, bei euch hier.«
»Du kannst dich auf mich verlassen, Onkel Johann«, sagte Karl mit Nachdruck. »Ich werde dich nicht enttäuschen.«
»Wichtiger als mich nicht zu enttäuschen ist, daß du deinen Eltern das nicht antust.«
»Ich weiß.«
»Dann schlage ich also vor, daß wir über die Sache kein Wort mehr verlieren.«
Karl nickte, schwieg eine Zeitlang, sagte aber dann doch: »Eines möchte ich dich noch fragen, Onkel Johann …«
»Was?«
»Wieviel hast du dafür bezahlt?«
»Wem?«
»Dem
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