Das Gift der alten Heimat
gern einen Becher Bier getrunken, aber Alkohol gab's auf den Rängen nicht. Die Polizei hatte schon beim Anmarsch Betrunkene aus der Menge herausgefischt und sie am Betreten des Stadions gehindert, um Schlägereien vorzubeugen. Bei solchen Spielen waren aber auch immer wieder Nüchterne nicht davor gefeit, aus der Rolle zu fallen.
Wenigstens bot die Halbzeitpause Gelegenheit, das eigenartige Zeltdach zu bewundern, eine Architektur, die es in der ganzen Welt ein zweites Mal nicht mehr gab. Onkel Johann war hingerissen. Wenn er gehört hätte, welch irrsinnige Summe das Dach gekostet hatte, wäre seiner Begeisterung allerdings ganz bestimmt ein ziemlicher Dämpfer aufgesetzt worden.
Die Halbzeitpause ging vorüber, die zweite Spielhälfte begann. Und nun sah plötzlich alles ganz anders aus, der FC Bayern war am Drücker, der HSV wurde in die Defensive gedrängt. Welle um Welle brandete gegen das Tor der Hanseaten, und nur großartige Leistungen ihres Keepers verhinderten noch eine Zeitlang den Anschlußtreffer der Münchner. Karls Nase wurde lang und länger, Willi schrie sich heiser, da nun seine Lieblinge das Heft in der Hand hatten. Und schließlich fiel auch das längst verdiente erste Tor der Bayern. Das Stadion schien zu bersten – mit Ausnahme der Nordkurve natürlich. Spontan behauptete jetzt Karl, daß der Schiedsrichter zum Augenarzt müßte, weil er das klare Handspiel eines Bayern-Stürmers nicht gesehen hätte.
»Außerdem standen von denen auch noch zwei Mann im Abseits!« fügte Karl hinzu.
»Warum nicht vier?« höhnte Willi.
Der nächste Nackenschlag für Karl und die Nordkurve ließ nicht lange auf sich warten – der Ausgleichstreffer des FC Bayern fiel. Dabei blieb's aber dann bis zum Schluß, das Spiel endete also unentschieden, nachdem der Hamburger Torwart noch über sich hinausgewachsen war und die tollsten Chancen der Münchner zunichte gemacht hatte.
Onkel Johann war stolz auf seine Nase.
»Was sagt ihr zu meinem Tip?« fragte er hocherhobenen Hauptes.
Paul nickte anerkennend, aber die Jungen erhoben Einspruch.
»Du mußt zugeben, Onkel Johann«, meinte Willi, »daß das Ergebnis irregulär ist. Für mich ist der moralische Sieger der FC Bayern – auf Grund der zweiten Halbzeit!«
»Und für mich«, ließ sich Karl vernehmen, »der HSV – auf Grund der ersten!«
Onkel Johann lachte.
»Hat's euch gefallen?« fragte er die beiden. »Obwohl jeder nur den moralischen Sieg seiner Mannschaft zu verzeichnen hat?«
Es sei einmalig gewesen, versicherten sie ihm. Das Fernsehen müsse sich dagegen verstecken. Und das hätten sie ihm zu verdanken.
Aus dem Stadion herauszukommen, war mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Vor den Ausgängen stauten sich die Massen, das Gedränge war fürchterlich. Jeder wollte der erste sein und stieß und trat und drückte, als ob es um sein Leben ginge. Die Unvernunft feierte Triumphe. Es wurde geschimpft und geflucht, und auf dem Gelände zwischen dem Stadion und dem S-Bahnhof hatte ein großes Aufgebot von Polizisten auch schon alle Hände voll damit zu tun, Gruppen aufgepeitschter Fans, die entgegengesetzten Lagern entstammten, auseinanderzuhalten. Auch in den Waggons drohte die Situation zu explodieren, wenn Rotweiße mit Blauschwarzen zusammentrafen.
Onkel Johann und die Seinen hatten Glück. Sie konnten Plätze in einem Wagen ergattern, in dem sie nur von Rotweißen umgeben waren. Das blauschwarze Element fehlte, und dadurch bestand keine Gefahr, daß Feindseligkeiten ausbrachen, unter deren Räder zu geraten den vier Rheinstädtern den Geschmack am ganzen Spiel nachträglich noch verdorben hätte.
»Wohin jetzt?« fragte Paul während der Fahrt in die Innenstadt seinen Onkel, dem er das Kommando überließ.
»Zuerst ins Hotel«, antwortete Johann. »Etwas essen und trinken und die Zimmer beziehen …«
»Und dann?«
»Dann laufen wir rum und sehen uns noch ein bißchen die Stadt an.«
»Wann rufen wir zu Hause an?«
»Um halb neun.«
»Nicht eher?«
»Eher geht das nicht«, grinste Onkel Johann, »weil um acht erst der Zug fährt, den wir versäumen.«
Karl und Willi kicherten darüber.
»Boys«, sagte Onkel Johann zu ihnen, »zu Hause werden wir eurer Mutter natürlich eingestehen, daß wir sie hinters Licht geführt haben. Hoffentlich ist sie uns dann nicht allzu böse.«
»Du bringst ihr doch eine Perlenkette mit?« meinte Willi vorlaut.
Das erregte Pauls Ärger, aber zum Schimpfen war keine Zeit mehr, denn der Zug erreichte schon
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