Das Gift der Engel
fragte Alban. »Haben Sie Adressen ausgetauscht?«
»Kein Kontakt. Wie gesagt. Die haben ihren Kram runtergespielt und fertig. Ich hatte das Gefühl, dass sie ähnlich an den Job gekommen waren wie ich. Ich habe dann auch nicht weiter nachgefragt.«
»Warum haben Sie für diese eine Arie von halb zehn bis drei gebraucht? Das ist ja für so ein kurzes Stück nicht gerade wenig.«
»Wieso ein Stück?«, fragte Pitt. »Wir haben nicht nur eine Arie aufgenommen.«
»Sondern?«
Er dachte kurz nach. »Zehn. Zehn Stücke waren es.«
Der Studiobesitzer saß wieder hinter der Glasscheibe und spielte vor, was damals bei der Aufnahme entstanden war. Alban kannte die Kompositionen; es waren allesamt Arien aus Barockopern. Es begann mit »Ombra mai fu« aus der Oper »Xerxes« von Händel. Dann folgte ein Stück von Gluck aus »Orpheus und Euridice« – die berühmte Arie »Ach, ich habe sie verloren«. Es gab außerdem das originale »Lascia ch’io pianga« aus Händels »Rinaldo«, dann noch ein paar Arien aus Opern von Vivaldi. Jedes Mal war nur die Begleitung aufgenommen worden.
Pitt setzte sich wieder auf den Stuhl. »Unglaublich, dass Sie das so genau erkennen«, sagte er, als Alban ihm das Programm aufgezählt hatte. »Ich hab noch nicht mal gewusst, was ich auf die CDs schreiben sollte.«
»Wäre es möglich, dass Sie für mich eine Kopie davon machen?«, fragte Alban. »Ich würde mir das gern genauer anhören.«
Pitt dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. »So was mache ich nicht. Ich kann unmöglich das Material vervielfältigen.«
»Das muss ich wohl akzeptieren. Es wäre also doch am besten, wenn ich die Musiker finden könnte. Wahrscheinlich haben sie ja die Aufnahmen mitgenommen.«
»Nein«, sagte Pitt. »Die fertigen Aufnahmen sind woanders hingegangen. Ich habe sie auf CD gebrannt und weggeschickt.«
»Mit der Post?«
»Wie es in dem Brief stand.«
»Wissen Sie noch, wo Sie die Sendung hinschicken sollten?«
Pitt seufzte und drückte seine aktuelle Zigarette aus. Alban hatte nicht mitgezählt. Im Aschenbecher lag ein ganzer Haufen Kippen.
»Das kann ich Ihnen nicht mehr sagen.«
»Weißt du es nicht mehr, oder willst du es nicht wissen?«, fragte Simone.
Pitt starrte nachdenklich nach unten. »Ich weiß es noch, weil es so eine komische Adresse war.«
»Wieso komisch?«
»Es war ein Seniorenheim. Ich weiß es noch ganz genau. Haus Abendfrieden in Siegburg. Zimmer 50. Ich brauchte noch nicht mal eine Straße dazuzuschreiben.«
»Sie hätten das Geheimnis des unbekannten Auftraggebers lüften können. Haben Sie das nie in Erwägung gezogen?«
»Warum hätte ich das tun sollen? Er wird schon seine Gründe dafür gehabt haben. In der Musikbranche laufen schon ziemlich irre Leute rum. Viele glauben, sie hätten das ultimative Konzept, um irgendeinen Hit zu landen. Und viele haben Angst, dass man ihnen ihre Idee klaut. Da entwickelt jeder so seine Strategie. Ich halte mich da raus. Ich mache Aufnahmen und fertig.«
Alban stemmte sich aus dem tiefen Sofa. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte er.
»Werden Sie jetzt nach Siegburg fahren und nachsehen, wer in Zimmer 50 lebt?«
»Ja. Aber keine Sorge. Wir lassen Sie aus dem Spiel.«
Sie öffneten die Haustür und blickten auf die Straße. Es schüttete. Alban spannte den Schirm auf, und dicht nebeneinander rannten sie zum Wagen.
Alban überlegte, wie er am schnellsten nach Siegburg kam. Sie mussten auf die andere Rheinseite. Und wo sie schon mal an der Severinsbrücke waren, war es sicher nicht verkehrt, sie auch gleich hier zu überqueren … Alban drückte auf den Knopf auf der Rückseite des Lenkrades, und der kleine Monitor des Navigationssystems fuhr hoch.
»Tu mir mal einen Gefallen«, sagte er, »und ruf die Auskunft an. Frag bitte nach der Adresse dieses Hauses Waldfrieden.«
»Es heißt Abendfrieden.«
»Wie auch immer.«
18
Das Navigationssystem führte sie durch den Siegburger Ortsteil Kaldauen, der sich auf dem elektronischen Stadtplan als ovale Bebauungsfläche zeigte. Wie eine Halbinsel ragte sie in ein großes grünes Waldgebiet hinein. Nach und nach schob sich von oben ein unregelmäßiger blauer Fleck auf den Monitor – die Wahnbachtalsperre.
Nach ein paar Kurven sagte die elektronische Frauenstimme, das Ziel sei erreicht. Alban bremste und sah sich ratlos um. Rechts wies ein Schild auf das Seniorenheim hin. Es war allerdings kein Haus zu sehen, nur eine von hohen Hecken begrenzte Einfahrt auf einen
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