Das Gift der Engel
Boden. Auf der anderen Seite stand ein Esstisch mit sechs gedrechselten Stühlen. Darauf lag eine schwere bestickte Tischdecke. Die Wände waren mit gerahmten Fotos bedeckt. Frauen in schwarzen Kleidern und Männer in Uniform blickten Alban streng entgegen.
In einem riesigen Sessel ruhte eine kleine, fast unscheinbare Greisin. Ihr strohblondes Haar wirkte unnatürlich, es war sicher eine Perücke. In dem mumienhaft vertrockneten Gesicht leuchteten zwei blaue, hellwache Augen. Sie taxierten Alban aufmerksam.
»Kommen Sie näher«, flüsterte die Pflegerin und rief der Gräfin entgegen: »Diesmal ist es nicht Guido, der Sie besucht, sondern ein alter Bekannter!« Sie wandte sich zu Alban um und fragte ihn leise nach seinem Namen. »Da sind Herr Alban und Frau Lenz! Sie kennen doch Herrn Alban von früher!«
Frau von Schaumburg schwieg. Wenn die lebendigen Augen nicht gewesen wären – Alban hätte das Gefühl gehabt, einer Puppe gegenüberzustehen.
Plötzlich spürte er, dass Simone ihn sanft in die Seite stieß.
»Schau auf die Bilderwand«, flüsterte sie. »Ganz oben.«
Alban suchte die Rahmen ab und verstand, was sie meinte. Das oberste Bild war kein Foto, sondern eine Zeichnung. Zu sehen war ein Wappen. Zwei Türme und ein Karo. Es war dasselbe, das auch das Tor an dem Anwesen in den Hügeln von Remagen schmückte. Die Türme leuchteten gelb und das Karo dunkelgrün.
»Ich lasse Sie mit ihr allein«, sagte die Pflegerin, »ich muss wieder nach vorne. Frau von Schaumburg scheint heute etwas müde zu sein. Manchmal spricht sie ein bisschen, aber heute hat sie wohl keine Lust dazu …«
Sie lächelte die alte Dame an und ging hinaus. Alban zog einen der Stühle vom Esstisch heran. Simone blieb im Hintergrund. »Frau von Schaumburg, können Sie mich verstehen?«, fragte er.
Keine Reaktion. Die Gräfin blinzelte nicht einmal.
»Mein Name ist Alban. Ich bin Musikkritiker aus Bonn. Ich kenne Herrn Dr. Bernardi und Dr. Joch. Man hat mir viel von Ihnen erzählt, und ich war gerade in der Nähe. Da dachte ich, ich besuche Sie.«
Hörte Frau von Schaumburg überhaupt, was er sagte?
»Das Haus oberhalb von Remagen, gehört das Ihnen?«
Nichts bewegte sich in dem Gesicht.
»Wissen Sie, dass Herr Dr. Joch umgekommen ist?«
Alban wartete einen Moment. Dann stand er auf und bemerkte, dass Simone nicht mehr im Raum war. Langsam wanderte er durch das Zimmer.
Ein altes Schwarzweißfoto erregte seine Aufmerksamkeit. Es zeigte ein junges Mädchen, das vor einem alten Herrn einen Knicks machte. Einige uniformierte Männer umstanden die Szene. Der alte Herr hatte einen weißen Bart und trug einen Helm mit Federbusch auf dem Kopf. Auch er war in Uniform. Die Knöpfe glänzten in der Sonne. Alban wusste, wer der Mann war. Er hatte sein Bild schon oft in Geschichtsbüchern gesehen.
»Das Mädchen bin ich«, sagte Frau von Schaumburg deutlich hinter ihm. »Ich war damals zwölf Jahre alt.«
Alban drehte sich um. Die Gräfin wirkte genauso maskenhaft wie vorher. Hatte sie wirklich gesprochen?
»Sie sind Kaiser Wilhelm begegnet? Erzählen Sie mir davon.« Er setzte sich wieder.
Die Gräfin reagierte nicht.
»Frau von Schaumburg, Herr Dr. Joch wurde ermordet. Er hat mir vor seinem Tod eine Partitur gegeben, eine Arie, die sehr interessant komponiert ist und über deren Herkunft ich gern mehr wüsste. Sie haben mit Herrn Dr. Joch und Dr. Bernardi einen musikalischen Förderverein gegründet. Sie verstehen also etwas von Musik …«
Irrte sich Alban, oder hatte die Gräfin den Kopf bewegt? Er beschloss, einfach weiterzusprechen.
»Darf ich fragen, ob Sie Dr. Joch jemals eine Partitur gegeben haben. Vielleicht stammt das Werk ja aus Ihrer Familie? Ich gebe zu, ich bin über Ihre Familiengeschichte nicht gut informiert, aber deren Wurzeln reichen doch sicher weit zurück? Gibt es da nicht ein Archiv?«
Frau von Schaumburg entblößte eine bleiche Zahnreihe und schüttelte unmissverständlich den Kopf. Dann fiel sie wieder in ihre Erstarrung zurück.
»Wollen Sie mir nicht weiterhelfen?«
Alban wartete eine Weile, dann stand er auf.
»Schade. Ich habe herausgefunden, dass eine Aufnahme der Arie an diese Adresse geschickt wurde. Hierher – ins Haus Abendfrieden, Zimmer 50.«
Er sah sich um. Es gab kein elektronisches Gerät. Keinen Plattenspieler und keinen CD-Player. Noch nicht einmal ein Radio oder einen Fernseher. Das Einzige, was Musik machen konnte, war der Flügel in der Mitte.
Alban klappte ihn auf.
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