Das Gift der Engel
einen Blick auf das Stück werfen, von dem Sie sprachen.«
»Aber selbstverständlich.« Alban bahnte sich zwischen den Notenpulten und den instrumentenstimmenden Kollegen einen Weg zu seinem Schreibtisch und nahm die kopierten Notenstapel.
»Oh, eine Partitur«, stellte Frederike fest.
»Ich hoffe, sie ist ordentlich genug geschrieben«, sagte Alban. »Ich hatte den Eindruck, das müsste so gehen.«
Frederike nickte. »Durchaus. Eine sehr deutliche Schrift.« Sie las die Noten. »Lascia ch’io pianga. Den Text kenne ich.«
»Es gibt eine Arie von Händel auf diesen Text. Aus der Oper ›Rinaldo‹. Das hier ist aber ein anderes Stück.«
Sie blätterte in den Noten. »Von wem?«
»Ich weiß es nicht. Ich dachte, es wäre ganz spannend, es herauszufinden. Wenn wir das Werk hören, fällt uns vielleicht etwas dazu ein.«
»Wo haben Sie die Partitur denn her?«
»Das ist eine lange Geschichte, die ich vielleicht später erzählen kann.«
Das Quartett nahm Platz. Alban stützte die Geige auf dem Knie auf. »Sind alle so weit?«, rief er in die Runde. Man nickte. »Einige von Ihnen wissen es bereits. Ich möchte vorschlagen, heute nicht das Beethoven-Quartett zu proben, sondern etwas anderes.« Er verteilte die Noten.
»Das ist nicht dein Ernst, Nikolaus«, sagte Kessler, als er sein Exemplar bekommen hatte.
»Aber sicher.«
»Wieso willst du gerade dieses Stück spielen? Haben wir nicht mit anderen Dingen genug zu tun?«
»Was ist denn das?«, wollte Stollmann wissen und blätterte neugierig.
»Ich weiß nicht, ob wir das machen können, Nikolaus«, meldete sich Kessler wieder. »Ich habe dir die Partitur mitgegeben, weil ich weiß, dass du dich dafür interessierst. Und jetzt willst du das Stück spielen – womöglich auch noch öffentlich?«
»Von öffentlich kann gar keine Rede sein, Gerhard. Alles bleibt hier in diesem Raum. Unter uns.«
Frederike sah verständnislos in die Runde. »Gibt es Probleme?«, fragte sie.
»Ich erkläre das sofort«, sagte Alban. In diesem Augenblick senkte sich die Klinke an der Tür, und Simone kam herein. Alban nickte ihr zu, und sie setzte sich auf den Boden, den Rücken an die Wand gelehnt.
»Ihr habt sicher von dem Todesfall in der Lotharstraße gehört«, sagte Alban.
Fiona und Frederike machten ein verwundertes Gesicht. Sie kamen aus Köln; offenbar war die Nachricht nicht bis zu ihnen durchgedrungen. Alban erklärte in kurzen Worten, worum es ging und dass die Partitur aus dem Besitz eines Mordopfers stammte. Kessler schüttelte den Kopf, schwieg aber dazu.
»Ich möchte herausfinden, von wem das Stück ist. Bisher konnte ich weder bei den Bonner Musikwissenschaftlern noch über Herrn Jochs Bekannte etwas darüber erfahren. Und so kam ich auf die Idee, die Arie zu spielen. Vielleicht kommt uns ja ein fruchtbarer Gedanke.«
»Sieht barock aus«, sagte Frederike.
Alban nickte. »Aber es gibt ein paar Wendungen … Na ja, Sie werden schon selbst sehen oder vielmehr hören. Fangen wir einfach mal an. Ich würde gern als Erstes den Streicherpart gesondert durchgehen. Falls es Schreibfehler oder Unklarheiten gibt. Das Tempo ist Adagio. Wir sollten das ernst nehmen, vor allem beim ersten Mal. Es gibt ein paar schwierige Sprünge, die leicht unsauber werden.«
Kessler brummelte etwas, gab sich aber geschlagen. Ein paar Sekunden herrschte konzentrierte Stille. Dann begannen sie zu spielen, und es erklangen die gestoßenen Akkorde, in die der Komponist bereits einige gewagte Rückungen und Modulationen hineingelegt hatte. Frederike stand mit ihren Noten in der Hand direkt neben Alban. Als die Stelle kam, an der die Streicher lange Noten zu spielen hatten und dazu die Sopranstimme einsetzte, hörte Alban, wie sie leise mitsummte. Sie probte ihren Part.
Danach kam die Passage, die Alban beim Üben aufgefallen war – an der die Streicherstimmen so eigenartig über Kreuz gingen.
Frederike entfernte sich von ihrem Platz. Als sie kurz darauf wieder neben Alban stand, hielt sie einen Bleistift in der Hand und markierte schnell etwas in den Noten. Das Quartett gelangte an den Schlussakkord. Alle sahen Alban an.
»Irgendwelche Probleme?«, fragte er.
»Das klingt manchmal ziemlich komisch«, sagte Fiona. »Und es sind eigenartige Sprünge drin.«
Kessler lächelte abschätzig zu Alban hinüber. »Und du hast gedacht, das wäre was Bedeutendes. Soll ich dir mal was sagen? Ich verstehe sicher weniger von Musik als du, aber ich würde drauf wetten, dass Joch das Ding
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