Das Gift der Engel
selbst zusammengestümpert hat.«
»Warten wir mal, wie es mit Gesang klingt«, sagte Alban. Er wandte sich Frederike zu. »Sind Sie bereit?«
»Ich denke schon.«
Wieder begannen die Akkorde. Sie mündeten in die langen Noten, über denen die Solostimme einsetzen sollte. Frederike begann, und Alban war überrascht, wie mächtig ihr Sopran klang – fast zu voluminös für diesen kleinen Raum.
Erst jetzt, im Zusammenspiel, zeigte sich, dass die dünnen Akkorde des Quartetts nur ein Teppich waren, auf dem die Solostimme gewissermaßen die Bühne betrat. Und von der ersten Note an, in den ersten zaghaften Schritten der weit ausholenden Melodie, verbreitete der Sopran eine intensive Stimmung der Verlorenheit und der Trauer. Es war eine ganz andere Art, die Bedeutung des Textes zum Ausdruck zu bringen, als man sie bei Händel erlebte. Die beiden Stücke hatten musikalisch nicht das Geringste miteinander zu tun. Und Alban war erstaunt, als er feststellte, dass die kleinen Satzfehler in den Streichern der Intensität des Stückes keinen Abbruch taten.
Die Solostimme schwang sich ein zweites Mal auf, in langen Bogen und Kurven schraubte sie sich nach oben, als strebe sie dem Himmel entgegen.
Alban war in den hypnotischen Klängen völlig versunken, als Frederike plötzlich abbrach. Die Streicher kleckerten noch ein bisschen hinterher; dann herrschte Stille. Sie hatten gerade mal die Hälfte des Stückes geschafft.
»Was ist?«, fragte Fiona, und Alban drehte den Kopf zu Frederike. »Was haben Sie?«
Die Sängerin schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Fast würde ich sagen, man müsste das Stück etwas schneller nehmen … aber vom musikalischen Standpunkt aus …«
»Vorgeschrieben ist Adagio«, erinnerte Stollmann.
»Das ist mir klar«, sagte Frederike. »Aber schauen Sie hier.« Sie hielt Alban ihr Partiturexemplar hin. Sie hatte die langen Bindebogen mit Bleistiftstrichen unterteilt. »Ich kann diese Phrasen in diesem langsamen Tempo nicht singen, wenn ich nicht zwischendurch atmen kann. Schon der Teil, den wir bis jetzt probiert haben, ist sehr schwer durchzuhalten. Und weiter hinten …«, sie blätterte um, »… steigert sich das noch. Die Phrasen werden immer länger, immer schwerer, immer intensiver.«
»Sind Sie denn sicher, dass man das singen soll, ohne Atem zu holen?«, wollte Alban wissen.
Frederike lächelte verlegen; es schien ihr peinlich zu sein, dass sie mit dem Stück nicht zurande kam. »Es geht ja nicht anders. Der Komponist will, dass das alles auf einer einzigen Silbe gesungen wird. Und diese Melismen sind unheimlich dicht komponiert. Es gibt nirgendwo einen Neuansatz. Man kommt einfach nicht dazwischen. Ich muss sagen, ich habe ja schon viel Repertoire geprobt, aber so was habe ich noch nicht gesehen.«
»Ein Stümperkomponist«, sagte Kessler laut in die Stille der allgemeinen Verwunderung hinein.
»Das würde ich nicht sagen«, sagte Frederike. »Diese Melodielinie könnte herrlich werden. Aber leider läuft man Gefahr zu ersticken, wenn man sie so singen will, wie sie hier steht. Verändert man sie, um sie leichter zu machen, zerstört man sie.«
»Was wir hören konnten, war fantastisch«, sagte Fiona, und auch Stollmann nickte: »Wunderschön!«
Kessler schüttelte den Kopf.
»Vier zu eins«, sagte Alban in seine Richtung. »Simone, was sagst du?«
Albans Mitbewohnerin zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe ja nichts davon.«
»Das spielt keine Rolle. Sag einfach, was du davon hältst.«
»Es hat etwas …«, Simone suchte nach Worten, »… etwas Erhabenes. Als würde jemand unter der Last der Welt zusammenbrechen, aber als sei er gleichzeitig zu stolz, sich darüber zu beklagen.«
»Gut gesagt«, warf Stollmann ein.
Frederike nickte. »Sie haben ein herrliches Stück entdeckt, Herr Alban. Aber so, wie es da steht, ist es unsingbar. Es ist technisch einfach nicht möglich. Ich kenne keine Sängerin, die das schaffen könnte.«
Alles ist vorbei. Endgültig. Tot.
Mit schmerzerfülltem Gesicht hastet er die Stufen hinunter, vorbei an der schwarzen Gestalt, zur Tür und in den Gang.
Er kommt erst zur Ruhe, als er in seinem Zimmer ist. Er wirft sich auf sein Bett und presst krampfhaft die Lippen zusammen.
Der Tag vergeht.
Die Nacht zieht herauf.
7
Lea wandte ihm den Kopf zu und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Alban konnte nichts hören und beugte sich zu ihr hinunter. Und da vernahm er sie, die Arie, das weit geschwungene Melisma – weich und
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