Das Gift der Engel
geben soll. Wohnt denn noch jemand in der Wohnung von Herrn Joch?«
»Nein, ich glaube nicht. Vielleicht sollten Sie deswegen zur Polizei gehen.«
»Aber Herr Joch muss doch Verwandte haben. Oder andere Freunde. Er hat mir einmal etwas von einem Bruder erzählt, der in Koblenz wohnt.«
»Mag sein. Ich weiß darüber nichts.«
»Herr Joch hat wohl sehr zurückgezogen gelebt?«
»Er war auf jeden Fall viel unterwegs. Manchmal hörte und sah man wochenlang nichts von ihm. Wenn er dann zurückkam, wusste es gleich das ganze Haus.«
»Wieso?«
»Er hörte dann sehr laut Musik. Opern vor allem. Im Sommer bei offenen Fenstern.«
»Hat es Sie gestört?«
Die Frau lächelte. »Überhaupt nicht. Ich liebe Puccini, Verdi und diese Sachen. Es ist mir lieber als dieser Krawall, den die jungen Leute hier auf der Wiese manchmal verbreiten.«
»Na, so alt sind Sie ja nun auch nicht«, versuchte Alban ein Kompliment. Und es stimmte. Die Frau war höchstens Mitte dreißig.
»Danke«, sagte sie. »Aber aus dem Studentenalter bin ich deutlich heraus.«
»Über Opern habe ich mich mit Herrn Joch auch unterhalten«, sagte Alban. »Wenn er unterwegs war, zog es ihn wahrscheinlich in die großen Opernmetropolen – Wien, Paris oder London.«
»Möglich. Soweit ich weiß, war er ja im Ruhestand. Ein beneidenswertes Leben.«
»Wenn Herr Joch unterwegs war, hat sich doch bestimmt jemand um seine Post gekümmert?«, tastete sich Alban weiter vor.
»Keine Ahnung. Ich habe darüber nie nachgedacht, aber jetzt, wo Sie es sagen … Mir ist jedenfalls nicht aufgefallen, dass Herrn Jochs Briefkasten mal übergequollen wäre.«
Ein Wagen rollte aus Richtung des Schlosses heran. Die Frau winkte dem Fahrer. »Ich werde abgeholt«, sagte sie.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Es war ja gar keine.«
»Ich werde mit den CDs zur Polizei gehen. Das ist sicher die beste Lösung.«
Die Frau lief um das Auto herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Der Fahrer gab Gas.
Als das Auto verschwunden war, ging Alban noch einmal durch die Eisentür, zog einen Zettel und seinen Kugelschreiber hervor und schrieb die Namen auf den Klingelschildern ab.
Zurück in seinem Wagen, rief er erneut die Auskunft an, und zwei Minuten später hatte er sich die Telefonnummern von Jochs Hausnachbarn notiert. Ohne mit der Wimper zu zucken, gab er sich als Meyer-Schmidt von der Staatsanwaltschaft Bonn aus und fragte jeden, den er erreichen konnte, ob er wusste, ob Dr. Joch Reisen unternommen habe und wohin.
»Aber darüber habe ich doch schon beim Protokoll Auskunft gegeben!«, rief ein Herr Uhlenbruch deutlich verärgert. Alban hatte notiert, dass der Mann in der obersten Etage wohnte. »Weiß denn bei Ihnen die linke Hand nicht, was die rechte tut?«
»Entschuldigen Sie«, sagte Alban, »aber wir haben jetzt ein paar Hinweise, wo er sich aufgehalten haben könnte, und ich muss das noch einmal überprüfen.«
»Herr Dr. Joch hat mir nie gesagt, wohin er wollte. Er war schweigsam und zurückhaltend. Er bat mich darum, seinen Briefkasten zu leeren. Wenn er zurückkam, hat er die Post bei mir abgeholt. Auch das wissen Sie bereits.«
»Können Sie sich daran erinnern, ob er einmal Post von einer Bibliothek oder einem Archiv bekam?«
»Darauf habe ich nicht geachtet, und das ging mich ja auch gar nichts an. Jedenfalls habe ich keine Ahnung, wohin er reiste. Und wenn Sie mir damit jetzt noch weiter auf die Nerven gehen, dann werde ich mich über Sie beschweren. Lesen Sie doch die Protokolle, die Sie angefertigt haben. Wie heißen Sie noch mal? Meyer-Schmidt? Ich habe mir Ihren Namen notiert!«
Alban probierte noch ein paar Nummern, aber die anderen Bewohner des Hauses wussten entweder nichts über Dr. Joch, oder sie waren nicht in ihrer Wohnung.
Der Mann kann seine Ungeduld nicht beherrschen. Er geht schnell, macht große Schritte. Der Junge hat Mühe mitzuhalten und gerät außer Atem. Der Schweiß bricht ihm aus. Sie erreichen eine Tür.
Dahinter ist es kalt, und die Kälte strahlt ihm eisig in die Seele.
»Und? Was hat der Anwalt gesagt?«
Alban zog den Mantel aus und hängte ihn ordentlich in die Garderobe. Simone war sofort in den Flur gekommen, als er das Haus betreten hatte.
»Um ein ausgedehntes Detektivspiel komme ich wohl nicht herum, wenn ich das Geheimnis der Partitur lüften will«, sagte er und ging in die Küche, wo eine dicke Plastiktüte mit Einkäufen auf der Arbeitsfläche stand. Simone ist bei Feinkost Schüller gewesen,
Weitere Kostenlose Bücher