Das Gift der Engel
»Sie hat diese komplizierten Koloraturen nicht singen können. Sie hat gesagt, man würde daran ersticken.«
»Sehen Sie, da haben Sie es.«
»Was meinen Sie?«
Bernardi schien nach Worten für eine längere Erklärung zu suchen. Dann machte er ein Gesicht, als müsste er sich korrigieren, und sagte nur: »Vergessen Sie dieses Machwerk, Herr Alban. Es ist das Papier nicht wert, auf dem es steht. Da war kein ernsthafter Komponist am Werk. Wer weiß, vielleicht hat Joch selbst mal zu komponieren versucht.«
»Aber …«
»Ich als Italiener«, sagte er und machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Ich als Italiener habe die Gesangsmusik, die Oper im Blut.«
Oh Gott, jetzt fängt der so an, dachte Alban.
»Und ich als Italiener sage Ihnen – diese Noten wurden hingeschmiert von einem … wie sagt man?«
»Stümper?«, entfuhr es Alban.
Bernardi nickte. »Von einem Stümper.«
»Sind Sie sicher? Ich meine …«
Bernardi legte seine Hand auf Albans Arm, um seinen Einwand zu stoppen. »Herr Alban, ich sage Ihnen noch etwas. Ich glaube nicht, dass Herr Dr. Joch wirklich etwas über die Qualität dieser Partitur wissen wollte, als er sich damit an Sie wandte. Da stimmt etwas nicht.«
»Was meinen Sie damit? Er hat es mir doch selbst gesagt …«
Bernardi zog wieder die Augenbrauen zusammen und musterte Alban. »Ich würde gern wissen, was er genau gesagt hat. Wörtlich, verstehen Sie?«
Alban versuchte, seine Unsicherheit zu verbergen, aber er konnte diesem stechenden Blick einfach nicht standhalten. »Ich kann mich nicht erinnern«, begann er. »Er brachte mir eines Tages diese Noten mit, in einem Umschlag … Und dann fragte er mich, was ich davon halte.«
Bernardi schüttelte den Kopf. »Mit Verlaub, Herr Alban. Warum hat er sich in dieser Sache nicht an mich gewandt?«
Um kurz nach zehn bog Alban wieder in die Beethovenallee ein. Sein Bauch fühlte sich an, als hätte er drei Kilo Beton verspeist.
Gleich nachdem Bernardi die Partitur als das Werk eines Stümpers abgetan hatte, war in Alban der Keim eines dumpfen Ärgers entstanden, und er hatte sich verstärkt, als der Kellner das Essen aufgetragen hatte. Bernardi war den Rest des Abends sehr kurz angebunden gewesen, und Alban vermutete, dass dahinter so etwas wie Eifersucht steckte. Der Dottore nahm Joch offenbar über dessen Tod hinaus übel, dass nicht er, sondern Alban gefragt worden war, um etwas zur Qualität der Partitur zu sagen. Mehrmals war Alban versucht gewesen, die ganze Sache aufzuklären und zu sagen, dass das Manuskript in Wirklichkeit von Zimmermann gekommen war, aber es war ihm zu dumm gewesen, vor dem selbstbewussten Italiener als Lügner dazustehen. Schließlich hatten sie sich förmlich verabschiedet.
Alban betrat sein Haus und hörte aus Simones Räumen Fernsehgeräusche. Dramatische Musik, Reifenquietschen, abgehackte Dialoge.
Alban ging in sein Arbeitszimmer hinauf und schloss die Tür hinter sich.
Jetzt hatten schon zwei Experten die Arie, die Alban so geheimnisvoll und faszinierend vorkam, niedergemacht. Andererseits war Alban so gut wie sicher, dass beide nicht frei von persönlichen Vorurteilen gewesen waren.
Es klopfte an der Tür. Simone hatte offenbar mitbekommen, dass er zu Hause war.
Alban rief »Herein«, und sie schob sich zögernd in den Raum. Sie trug eine Jogginghose und ein Sweatshirt, dazu dicke graue Socken.
»Bist du schon lange da?«, fragte sie.
Alban setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Gerade erst gekommen.«
Simone ließ sich im Sessel nieder. »Und? Was hat Bernardi gesagt?«
Alban schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, viel ist bei der Sache nicht herausgekommen.«
Er berichtete, wie der Dottore auf die Partitur reagiert hatte, und versuchte, die unterschwellige Eifersucht zu beschreiben, die Bernardi plötzlich gepackt hatte. Alban war sich nicht sicher, ob ihm das überzeugend gelang, aber Simone nickte verständnisvoll.
»Der Typ war einfach sauer, dass er nicht nach seiner Meinung gefragt worden ist.«
Alban stand auf, kam hinter dem Schreibtisch hervor und begann ziellos im Raum herumzulaufen. »Dabei stimmt das alles ja gar nicht. Joch hat die Partitur schlicht und ergreifend in einem Umschlag bei Zimmermann deponiert. Ich war zwischendurch drauf und dran, Bernardi das zu erzählen.«
»Das wäre falsch gewesen. Du musst jetzt schon bei einer Geschichte bleiben.«
»Das glaube ich mittlerweile nicht mehr. Ich glaube, es wäre von Anfang an besser gewesen, die Wahrheit zu
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