Das Gift der Engel
Nacht.«
Als sie den Raum verlassen hatte, versuchte Alban, seine Gedanken zu ordnen. Er dachte an Gräbers Studenten Peter Jung. Der war noch immer dabei, das Stück durch seine Datenbanken zu jagen. Auch wenn Alban nicht ernsthaft glaubte, dass dabei etwas Nützliches herauskommen würde – das Ergebnis interessierte ihn.
Er sah auf die Uhr. Es war fast elf. Normalerweise störte man um diese Zeit niemanden mehr. In Studentenkreisen war das wahrscheinlich egal. Alban ließ es bei Jung endlos lange klingeln; niemand meldete sich.
Er stand auf, und sein Blick fiel auf Leas Foto. Als er ihr Gesicht sah, begann in seinem Kopf Musik zu klingen – ein paar leise Klaviertöne, scheinbar nur so dahingeworfen, ohne Absicht, der Beginn einer Improvisation.
Alban suchte Leas CD heraus, ließ den Schlitten des Players herausfahren und drückte sich durch die Tracks, bis er zur Nonnenwerth-Elegie gekommen war.
Sanfte Akkorde drangen durch den Raum. Einzelne Tonsäulen, die sich vorsichtig veränderten. Sie verdünnten sich zu einem Einzelton, und dann öffnete sich wie ein Vorhang ein Geflecht aus gebrochenen Dreiklängen, über die sich eine weit geschwungene Melodie legte – nicht pathetisch, sondern eher vorsichtig, wie ein einsamer Gesang. Manchmal hatte man den Eindruck, die Motive würden von den Rheinfelsen widerhallen wie Echos, die im weiten Flusstal brachen.
Alban, der in seinem Sessel saß, ließ die geschmeidige Musik auf sich wirken, und plötzlich kam es ihm vor, als gäbe es eine heimliche Verbindung zwischen dieser Musik gewordenen Rheinromantik und der geheimnisvollen Arie. Als würde sich hinter der Fassade einer barocken italienischen Opernarie etwas verbergen …
Er saß mit geschlossenen Augen da, konzentrierte sich ganz auf Leas Spiel. Sie war jetzt an der Stelle angekommen, an der sich die gesangliche Linie in der Mittellage wiederholt hatte und das Stück in einzelne Klangtupfer zerfaserte, gewissermaßen löchrig wurde und zu den changierenden Akkorden des Anfangs zurückkehrte.
Diese Stelle hatte Alban schon immer als besonders mysteriös empfunden. Es ist, dachte er, als würde sich die Musik absichtlich zurückhalten im Angesicht von etwas anderem, etwas Gewaltigerem, von dem sie nur ein schwacher Abglanz sein kann und vor dem der Komponist schweigen muss. Die diffusen Bilder des düsteren Rheintals und der mit hohen Bäumen bewachsenen Insel mit dem alten Kloster schufen nach und nach wie in einer Überlagerung einem anderen Eindruck Platz. Es waren die handschriftlichen Noten der Partitur. Die eigenartigen Modulationen der Akkorde, bis sich die Gesangsstimme über die Streicher legte …
Und plötzlich war es, als sei das Ungeheure, das Unaussprechliche, das sich hinter der Musik, hinter Liszts Elegie und hinter der Arie verbarg, dasselbe.
Dasselbe große Geheimnis.
9
Der Junge schreckt auf. Dunkelheit umfängt ihn. Er ist in seinen Kleidern eingeschlafen. Sein Körper schmerzt, er friert.
Lärm nähert sich. Der Mann kommt in das Zimmer. Er schreit, und seine Stimme ist blanker Hass.
Der Junge springt panisch auf und drückt sich in die hinterste Ecke, gleich neben dem Fenster. Die Angst schnürt ihm die Kehle zu.
Der Mann steht da, schwer atmend.
Der Junge antwortet. Schüchtern und leise.
»Sag bloß, du beschäftigst dich immer noch mit diesem Machwerk. Deine Sorgen möchte ich haben.«
Alban saß an seinem Schreibtisch und telefonierte mit Kessler. Es war kurz nach neun am Morgen.
»Ich bin nun mal der Ansicht, dass es ein interessantes Stück ist«, beharrte er.
»Ein Stück, das keiner spielen kann. Das haben wir ja neulich bei dir erlebt.
»Singen, Gerhard, nicht spielen.«
»Warum rufst du mich überhaupt an? Du willst doch wohl nicht schon wieder eine Sonderprobe für das Quartett einberufen?«
»Keine Sorge. Nächste Woche wird wieder Beethoven geübt. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich auf der Suche nach Hinweisen zur Herkunft der Partitur mit verschiedenen Menschen aus Dr. Jochs Bekanntenkreis gesprochen habe.«
»Du spielst doch wohl nicht Polizei, Nikolaus? Ich warne dich.«
»Ich erforsche lediglich die Herkunft dieses Manuskripts, und dazu brauche ich Anhaltspunkte. Ich kann nichts dafür, dass ich dadurch gewisse Einblicke in Jochs Leben bekomme.«
»Mit wem hast du gesprochen? Und was meinst du mit gewissen Einblicken?«
Alban berichtete vom Besuch bei Sebastian Joch, und er ließ dabei auch die Mobbinggeschichte in der Klinik nicht
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